Der Liebe eine Stimme geben
bitte?«
»Spricht er in Worten zu Ihnen?« Olivia räuspert sich, blinzelt Tränen zurück. Was würde sie nicht geben, um Anthony sprechen zu hören.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen.«
»Ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Ihr Buch ist keine Fiktion. Es ist die Stimme meines Sohns«, sagt Olivia, während sie die Seiten hochhebt.
Beth mustert zögernd Olivias Gesicht, als würde sie darauf warten, dass sie ihr die Pointe eines Witzes erklärt, den sie nicht ganz versteht.
Olivia starrt sie an, wartet auf ihre Reaktion. Sie lauscht auf das Summen des Kühlschranks in der Küche, das Knistern und Prasseln des Holzes im Kamin. Sie spürt ihre eigenen Wimpern jedes Mal, wenn sie blinzelt, und das Wasser aus ihren nassen Haaren, das über ihren Nacken und Rücken tropft.
»Hören Sie, das mit Ihrem Sohn tut mir wirklich sehr leid, aber ich habe nicht –«
»Wie haben Sie das geschrieben?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Woher kennen Sie sich mit Autismus aus? Kennen Sie jemand anderen, der das hat?«
»Nein. Aber ich habe darüber gelesen –«
»Was dort steht, konnten Sie nicht nur vom Lesen wissen.«
»Und ich habe Kinder beobachtet, die es haben. Ich glaube, schon bevor ich irgendetwas darüber gelesen habe, hatte ich immer ein Gespür für Kinder, die es haben.«
»Das hier ist mein Sohn.« Olivia hebt die Seiten in ihrem Schoß hoch.
»Es tut mir leid, Olivia. Mir war nicht bewusst, dass Sie einen autistischen Sohn namens Anthony hatten. Ich hatte keine Ahnung, dass ich Sie bitten würde, etwas so Persönliches zu lesen. Es ist unglaublich, dass dieser Junge Sie so sehr an Ihren eigenen Sohn erinnert.«
»Das ist die Stimme meines Sohns. Ich weiß, ich klinge wie irgendeine verzweifelte, trauernde Mutter, die glauben will, dass jemand in Kontakt mit ihrem toten Sohn steht. Aber ich bin nicht verrückt. Das hier ist mein Anthony«, sagt Olivia, während sie die Seiten durchblättert.
Beths Augen weiten sich, als sie die rote und rosa Tinte auf den Seiten sieht.
»Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagt Beth.
»Ich weiß. Ich weiß, ich habe Ihnen einen Schrecken eingejagt. Glauben Sie mir, ich bin selbst erschrocken. Aber es gibt keine andere Erklärung dafür.«
»Es ist ein Zufall.«
»Das ist es nicht. Das hier ist mein Sohn.« Olivia streicht mit der flachen Hand über die oberste Seite. Ihre Hand zittert.
»Hören Sie, es tut mir leid, wirklich. Aber ich habe keine Stimmen gehört. Zu diesem Buch wurde ich von einer Kurzgeschichte inspiriert, die ich vor Jahren geschrieben habe, über einen Jungen, den ich einmal am Strand gesehen habe, als er eine Reihe mit Steinen gelegt hat. Und in letzter Zeit habe ich ein paar Bücher über Autismus gelesen, die irgendwie zu dem Jungen in meiner Kurzgeschichte und zu dem Jungen am Strand zu passen schienen, und ich habe sie alle zu dieser Figur zusammengeführt. Wirklich.«
Ein Junge, der am Strand eine Reihe mit Steinen anlegt. Hierher ist Olivia oft mit Anthony gefahren, als er klein war, nach Nantucket, zum Fat Ladies Beach und zum Miacomet Beach. Der Junge, an den sich Beth erinnert, ist Anthony. Da ist sich Olivia ganz sicher. Ein Schauder läuft ihr über den Rücken.
»Ich weiß nicht, wie oder warum, aber mein Sohn hat Ihnen seine Geschichte gegeben. Sie ist nicht von Ihnen gekommen. Sie ist durch Sie gekommen.«
Beth starrt Olivia fassungslos an, ohne etwas zu sagen. Olivia hält die Seiten auf ihrem Schoß fest umklammert. Sie kann diese Wohnzimmercouch nicht verlassen, ohne Beth irgendwie zu überzeugen. Sie atmet aus und sammelt sich.
»Lassen Sie mich noch einmal von vorn anfangen. Ich liebe Ihr Buch. Wirklich. Es ist wunderschön und ergreifend und absolut echt.«
Ein Lächeln stiehlt sich durch Beths Schutzwall, ein kleiner Lichtstrahl, der durch ein winziges Loch in einer Betonwand fällt.
»Aber Sie haben es nicht ganz fertig geschrieben. Wo Sie die Geschichte enden lassen, ist nicht das Ende.«
Beths Lächeln schwindet, aber sie hört weiter zu.
»Wir müssen wissen, was Anthony über seine Zeit hier denkt, über sein Leben und seinen Autismus. Was glaubt er, dass der Sinn seines Lebens war? Das ist die große, unbeantwortete Frage in Ihrem Roman. Was hat sein Leben ihm bedeutet?«
Olivia versagt die Stimme. Sie fühlt sich, als ob sie die Antwort auf diese Frage dringender braucht als die Luft zum Atmen. Sie hat sich diese Frage schon so lange
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