Der Liebe eine Stimme geben
gestellt, hat um eine Antwort gebetet, und hier vor ihr sitzt eine ganz gewöhnliche, jetzt völlig verschreckte Frau, eine Nachbarin, die sie kaum kennt, die irgendwie, aus irgendeinem Grund, Zugang zu der Antwort hat. Zugang zu Anthony.
»Selbst wenn Sie mich für völlig durchgeknallt halten, bitte hören Sie mich an. Gehen Sie zurück zu Ihrer Geschichte und schreiben Sie noch ein bisschen mehr. Vertrauen Sie mir. Sie haben noch nicht das richtige Ende.«
Beth sieht noch immer ein bisschen verstört aus, aber sie hört zu. Sie nickt.
»Ich werde darüber nachdenken.«
Olivia forscht in Beths Augen. Weiter als bis hierher kann sie sie nicht drängen.
»Danke. Ich kann Ihnen gar nicht genug danken. Und glauben Sie mir, Sie werden es sehen. Sie werden wissen, dass Sie das richtige Ende haben, wenn Sie es geschrieben haben.«
Beth kaut auf dem Nagel ihres Zeigefingers und starrt auf ihr Buch in Olivias Schoß. »Sie glauben wirklich, dass das, was ich geschrieben habe, von Ihrem Sohn gekommen ist?«
»Ich weiß es.«
Olivias Augen sind braun. Dieses Buch ist Anthony. Es ist ihm nicht ähnlich oder nachempfunden. Es erinnert sie nicht an ihn. Es ist er.
Als Olivia sich zum Gehen erhebt, sieht sie, dass Beth mit den Augen versucht, Olivia die Seiten ihres Manuskripts aus den Händen zu winden. O mein Gott, sie kann Anthonys Worte nicht hierlassen. Sie kann nicht.
»Kann ich dieses Exemplar bitte mitnehmen?«
Beth zögert. Sie sieht verwirrt und erschöpft aus.
»Okay.«
»Danke. Ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken, dass Sie das geschrieben haben. Sie haben dafür gesorgt, dass ich meinen Sohn auf eine Art kennen gelernt habe, auf die ich ihn nie kennen lernen durfte.«
Olivia legt das Manuskript wieder in den Karton, und Beth bringt sie zur Tür. Olivia sieht Beth fest in die Augen, stellt sicher, dass Beth sie wirklich sieht, und dann umarmt sie sie.
»Danke.«
Beth nickt und flüstert: »Gern geschehen.«
Olivia nimmt sich ihre noch immer nassen Schuhe und ihre Jacke, verabschiedet sich widerstrebend und geht. Sobald sie vors Haus tritt, reißt ihr der Wind die Kapuze vom Kopf. Sie sprintet über den Rasen zu ihrem Jeep, aber bevor sie die Tür öffnet, hält sie noch einmal inne. Sie legt den Kopf nach hinten, wendet ihr Gesicht dem gewaltigen grauen Himmel, dem Wind und dem Regen zu und betet.
Anthony, ich weiß, dass du es bist. Bitte, erzähl ihr mehr. Gib mir noch ein kleines bisschen mehr .
Sie steht auf der Straße, dem Wind ausgesetzt, ungeschützt vor dem Regen, vor dem Himmel, vor Gott. Sie kann sich nicht erklären, warum Anthony beschlossen hat, ausgerechnet durch Beth und nicht durch sie zu kommunizieren. Aber er hat es getan. Das glaubt sie ganz fest. Ja, sie glaubt es nicht nur, sie weiß es. Das hier ist Anthony, und das ungeschriebene Ende von Beths Roman ist die Antwort auf Olivias Gebete.
FÜNFUNDDREISSIG
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Es ist früh am Sonntagmorgen, und Beth sitzt auf Petras Wohnzimmercouch und wartet darauf, dass sie mit einem Kräutertee aus der Küche zurückkommt. Sie zupft einen schwarzen Fussel vom Sofakissen und schnippt ihn auf den Boden. Petras Couch ist weiß und viele Jahre alt, aber sie sieht noch immer brandneu aus, ohne einen einzigen Fleck, nur eines von vielen Anzeichen in diesem Zimmer, dass hier eine Frau ohne Ehemann und ohne Kinder lebt.
Gegenüber der Couch steht Petras Meditationsstuhl, ein niedriger, espressofarbener Rattanstuhl mit hoher Lehne und einem weißen Kissen (ebenfalls ohne Flecken). Eine schöne, handgewebte rosa-graue Wolldecke liegt auf dem Stuhl und deutet an, wo Petra bis vor ein paar Augenblicken gesessen hat. Auf dem flachen, runden Couchtisch neben einer Ausgabe des Cook’s -Magazins und einem Satz Tarotkarten brennt eine Lavendelkerze. Das Zimmer ist spärlich dekoriert – ein Schwarz-Weiß-Foto von Petra mit ihren Eltern und Geschwistern, das Gemälde eines Sonnenaufgangs über dem Meer, die Holzskulptur eines Pottwals, ein Jadebaum in einem großen, blauen Keramiktopf auf dem Boden, die Zweige mit winzigen goldenen Weihnachtskugeln behängt, eine Glasschale, die mit buntem Meerglas gefüllt ist. Einen Fernseher gibt es nicht.
Petra kommt ins Zimmer, noch im Pyjama, barfuß, die Zehennägel leuchtend rosa lackiert, und reicht Beth einen dampfend heißen Becher. Sie setzt sich im Schneidersitz auf ihren Stuhl, wickelt sich in die Decke, schlürft ihren Tee und beugt sich vor zu Beth.
»Das ist ja mal cool«, sagt Petra.
»Es ist
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