Der Liebe eine Stimme geben
gekräuselte Meereswellen. Die Uhr sieht alt aus und ist es vermutlich, und vermutlich hat sie eine Geschichte und historische Bedeutung, aber Beth weiß nicht, was für eine. Es ist still in der Bibliothek heute, so still, dass sie die Uhr ticken hören kann.
Tick. Tick. Tick.
Warum ist die Bibliothek heute so leer? Sie sieht aus dem Fenster. Blauer Himmel, keine Wolken, eine sanfte, stete Brise. Es ist ein idealer Strandtag. Das könnte sie mit ihrem freien Tag anfangen. Sie könnte an den Strand fahren! Sie schiebt ihren Stuhl zurück, aber bevor sie die Kappe auf ihren Stift steckt, erkennt sie das eigentliche Motiv hinter dieser Spontanidee. Angst. Angst vor dieser leeren Seite vor ihr. Außerdem ist es eine idiotische Idee, mitten an einem Julitag an den Strand zu fahren und sich mit den Sommerleuten um ein Fleckchen Sand zu streiten. Alle sind dort. Sie weiß, dass sie sich diesen Wahnsinn besser nicht zumuten sollte.
Sie schiebt ihren Stuhl wieder vor, streckt die Beine unter den Tisch und versucht es sich bequem zu machen. Okay. Anfangen. Aber was anfangen? Will sie eine ihrer unvollendeten Kurzgeschichten weiter ausarbeiten? Dann hätte sie sie mitbringen sollen. Sollte sie auf Nantucket spielen? Vielleicht in New York? Die Fragen prasseln auf sie ein, hallen in ihrem Kopf wider, lähmen ihre Hand.
Sie sieht zu der Uhr hoch. Neun Uhr fünfundvierzig.
Tick. Tick. Tick.
Vielleicht sollte sie eine dieser Übungen aus Schreiben in Cafés machen, den Stift in Bewegung bringen, die Tinte fließen lassen, die eingerosteten Räder ein bisschen ölen. Sie erinnert sich, dass ihr das früher immer dabei geholfen hat, etwas Neues zu beginnen.
Sie öffnet ihre Handtasche, eine große, klobige, abgewetzte schwarze Nylontasche. Irgendjemand hat sie ihr geschenkt. War es Georgia? Es ist schon so lange her, dass sie sich nicht mehr erinnern kann. Es war ein Babyparty-Geschenk. Ihre Handtasche ist eigentlich eine Windeltasche. Jill findet, das ist wirklich eine Schande.
Beth gibt zu, dass sie nicht unbedingt hübsch ist, und ja, ihre Mädchen gehen jetzt schon seit einer ganzen Weile selbst aufs Töpfchen, aber sie mag den breiten Schulterriemen, die Tatsache, dass sie wasserabweisend ist und man so ziemlich alles von ihr abwischen kann, dass sie jede Menge nützlicher Fächer hat. In das Fach für das Babyfläschchen steckt sie jetzt ihre eigene Wasserflasche. Das Fach für die Wischtücher enthält jetzt ihre Brieftasche. In dem Reißverschlussfach, in dem sie früher die Schnuller aufbewahrt hat, hat sie jetzt ihr Handy. Das mittlere Fach ist der Ort, wohin sie alles andere wirft.
Alles andere, wie es scheint, bis auf Schreiben in Cafés . Es ist nicht da. Sie hat vergessen, es mitzunehmen. Verdammt. Vielleicht sollte sie nach Hause fahren und es holen. Sie sieht auf ihr Notizbuch.
Leer.
Sie muss es holen. Aber sie weiß, wenn sie geht, dann wird sie nicht mehr wiederkommen. Wenn sie geht, dann wird sie in zwanzig Minuten gelbe Latexhandschuhe und einen Eimer mit Putzmittel tragen. Sie stellt die Füße flach und fest auf den Boden, als wären sie zwei Anker, und atmet durch. Sie wird bleiben.
Sie denkt, sie will die Kurzgeschichte weiter ausarbeiten, die sie über einen Jungen geschrieben hat, der Trost und Sinn in einer Fantasiewelt fand, in der Farben Emotionen hatten, in der Wasser singen und der Junge unsichtbar werden konnte. Aber dann erinnert sie sich an den Jungen, den sie einmal am Strand gesehen hat, an die seltsame Gebanntheit und Freude, die er zeigte, selbst für ein Kind, während er eine Reihe aus weißen Steinen legte, und an den winzigen Augenblick, den sie teilten und der sich wie ein kostbares Geheimnis zwischen ihnen anfühlte. Sie ist von beiden Jungen fasziniert und gefesselt. Vielleicht kann sie sie miteinander kombinieren. Aber wie?
Sie klopft gegen ihre Zähne und denkt an diesen Spruch: Schreib über das, was du weißt . Was weiß sie denn? Sie sieht auf ihre leere Seite.
Sie sieht seufzend zu der Uhr hoch. Zehn Uhr fünfundzwanzig. Vielleicht sollte sie auf einen Kaffee und einen Snack ins The Bean gehen. Vielleicht ist es das, was sie braucht, etwas Koffein, einen Happen zu essen und einen Tapetenwechsel. Vielleicht ist die Atmosphäre hier völlig falsch. Sie sieht sich um – auf die vielen cremeweiß gestrichenen Bücherregale, die randvoll mit gebundenen Büchern sind; die Perserteppiche; die Ölgemälde berühmter Schriftsteller wie Ralph Waldo Emerson, Henry David Thoreau
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