Der Liebe eine Stimme geben
du ihn hassen und ich nicht?«
Das ist eine gute Frage, aber Beth sagt nichts. Sie sagt nichts, denn selbst wenn er nicht mehr ihr Ehemann ist, wird er immer Sophies Vater sein. Sie sagt nichts, weil es nicht gut ist, irgendjemanden zu hassen. Aber ist es nicht okay, dass Sophie ihren Vater hasst, wenn sie so empfindet? Es kann nicht gesund sein, aufrichtige Gefühle zu unterdrücken. Beth sollte vermutlich bei der Vertrauenslehrerin der Schule Termine für alle drei Mädchen vereinbaren, um über dieses ganze Zeug zu reden.
»Weil ich die Mutter bin«, fuchtelt sie schließlich mit diesem unbestimmten, allmächtigen elterlichen Zauberstab über die ganze Diskussion, um sie zu beenden. »Es wird spät. Macht euch bettfertig.«
Sophie verdreht die Augen und geht zurück ins Haus. Ihre jüngere Schwester folgt ihr. Bevor Beth hineingeht, um zu sehen, was Gracie macht, und das Zu-Bett-Gehen zu beaufsichtigen, liest sie rasch noch ein paar Seiten.
Kurz nachdem die Mädchen eingeschlafen sind, nimmt Beth ihr Buch mit ins Bett, erschöpfter, als sie nach einem solch herrlich freien Tag eigentlich sein sollte. Sie hofft, das nächste Kapitel, vielleicht sogar das ganze Buch, zu Ende lesen zu können, aber die Augen fallen ihr zu, bevor sie auch nur eine einzige Seite umgeblättert hat.
Während sie in einen tiefen Schlaf sinkt, entdecken unverarbeitete Gedanken über das autistische Mädchen in dem Buch, das sie liest, Parallelen zu der Hauptfigur in Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone , die sie vor ein paar Monaten kennen gelernt hat. Distanziert von anderen Leuten. Verwirrt von Emotionen. Fasziniert von Wiederholung. Eine nicht gewürdigte Intelligenz. Ein Grundbedürfnis nach Ordnung. Eine Reihe von Blöcken. Eine Kette von Zahlen. Empfindlichkeit gegenüber Geräuschen und Berührung. Beharrlich. Schweigsam. Aufrichtig. Tapfer. Missverstanden.
Diese Elemente verbinden sich, während sie schläft, verschmelzen zu etwas Neuem, etwas, das sich nicht mehr eindeutig dem Mädchen in Eine Seele lernt leben oder dem Jungen in Supergute Tage zuordnen lässt. Es ist ein Vorgedanke, ein Schatten einer sich formenden Idee.
Der Schatten wandert durch ihren Verstand, sammelt Energie, schlängelt sich durch die Kurzgeschichte, die sie einmal über die Fantasiewelt eines merkwürdigen Jungen geschrieben hat, verschmilzt mit dem Bild eines sich drehenden Windrädchens und dem Geräusch eines Schreis, nimmt die Erinnerung an einen kleinen Jungen und die Freude in seinen Augen auf, als er Steine am Strand aufreiht. Und jetzt, nachdem sie die Elemente und die Kraft, die sie benötigten, gesammelt haben, fügen sich diese vielen Bilder und Geräusche im Schatten ihres Verstandes durch eine neurologische Alchemie, die in noch keinem Buch beschrieben wurde, erst zu einem Chor und dann, schließlich, zu einer einzigen Stimme zusammen. Der Schatten ist kein Schatten mehr. Er ist zu einer Inspiration geworden.
In jener Nacht wohnt ein braunhaariger, braunäugiger Junge in ihren Träumen, ein Junge, der die Welt auf eine einzigartige und fast unvorstellbare Weise sieht und hört und fühlt. Sie kennt ihn nicht, aber ihr Herz kennt ihn. Sie sieht ihn deutlich vor sich. Er ist lebendig und echt. Sie versteht ihn. Sie träumt noch immer von diesem Jungen, als sie am nächsten Morgen von ihrem Wecker aufwacht.
Um neun setzt sie die Mädchen am Gemeindezentrum ab und wünscht ihnen einen schönen Tag, und Sophie knallt die Wagentür zu. Dann fährt Beth sofort zur Bibliothek.
Sie geht nach oben und sieht zu der Uhr hoch. Es ist Viertel nach neun. Sie setzt sich auf denselben Platz wie gestern, schlägt ihr Notizbuch auf, zieht die Kappe von ihrem Stift, holt einmal tief Luft und beginnt, mit der Stimme des Jungen in ihrem Traum im Ohr zu schreiben.
ZWÖLF
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Ich liege auf der Terrasse im Garten und sehe zum Himmel hoch. Zum Himmel hochzusehen ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen, vor allem, wenn es ein wolkenloser Tag ist. An einem wolkenlosen Tag starre ich den blauen Himmel an, und ich liebe ihn. Ich starre den blauen Himmel so lange an, und ich liebe ihn so sehr, dass ich meine Haut verlasse und zu ihm hoch und in ihn hineinschlüpfe, so wie Regenpfützen an einem heißen Tag zum Himmel zurückkehren.
Ich verlasse den Jungen, der auf der Terrasse liegt, und ich werde der blaue Himmel. Ich bin blauer Himmel, und ich bin hoch über der Erde und dem Jungen, der auf der Terrasse liegt, und ich schwebe und
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