Der Liebe eine Stimme geben
die Augen fest zusammengepresst.
Seine Mutter hebt das Windrädchen auf und dreht es, hält es ihm vors Gesicht, versucht den Jungen wieder in seinen Bann zu locken, aber er schlägt die Augen nicht auf. Sie versucht ihn mit ihrer Stimme zu beschwichtigen, bemüht, ruhig zu bleiben, versichert ihm, dass sie bald zu Hause sein werden, aber seine mit den Daumen verstopften Ohren sind unempfänglich für Logik oder Lügen. Sie versucht nicht, ihn zu berühren. Olivia weiß, dass das vermutlich alles nur noch schlimmer machen würde. Viel schlimmer.
Dann sieht es so aus, als ob sie gar nichts tut. Sie ignoriert ihn.
Olivia sieht die Blicke und hört die gemurmelten kritischen Bemerkungen, die wie Münzen zwischen den Leuten in der Schlange herumgereicht werden.
Er ist zu alt, um sich so aufzuführen.
Meine Kinder dürften sich niemals so benehmen.
Verzogen.
Was ist das denn für eine Mutter?
Sie verstehen es nicht. Olivia schon. Anstatt ihn hochzuheben und aus dem Geschäft zu tragen, tut diese Mutter, was jede Mutter eines Kindes mit Autismus mit einem Wagen voller Einkäufe tun würde. Sie atmet tief durch, klammert sich mit aller Kraft an ihren Wagen und an ihren Mut und betet zu Gott.
Gott, bitte hilf ihm, sich zu beruhigen.
Gott, bitte, bevor ich auch noch durchdrehe, bring uns hier raus.
Gott, bitte.
»Ich kann ihn gut verstehen«, sagt die Frau in den Yogasachen. »Wenn diese Schlange nicht bald anfängt, sich ein bisschen schneller zu bewegen, fange ich auch an zu schreien.«
»Nicht sehr Yogi-mäßig von dir«, sagt ihre blonde Freundin, die, die die Bilder braucht.
»Stimmt. Aber es würde auf jeden Fall die ganze negative Energie freisetzen, die ich in diesem Laden aufgenommen habe. Stop & Shop verstopft total mein viertes Chakra.«
Die blonde Frau lacht. Olivia lächelt. Die blonde Frau starrt den Jungen und seine Mutter an, während sie in der Schlange stehen. Ihre Miene verrät keine Spur von Verurteilung, während sie die beiden beobachtet, vielmehr ein gebanntes Interesse, Staunen sogar. Olivia würde gern wissen, was sie denkt, aber sie sagt nichts.
Schließlich erreicht Olivia die Kasse. Sie begrüßt die Kassiererin mit einem freundlichen Hallo, packt ihre Einkäufe ein, trägt ihren Leinenbeutel zum Jeep und fährt nach Hause.
Dreißig Minuten später ist sie da.
Zu Hause kocht Olivia zwei Eier. Sie schneidet die Tomaten, die Gurken und eine rote Paprika in Scheiben. Sie schreddert den Kopfsalat und wirft alles in eine große Schüssel. Sie gibt Oliven, Vidalia-Zwiebeln, Parmesankäse und, als sie fertig gekocht sind, die Eier dazu. Anschließend träufelt sie etwas Olivenöl und Rotweinessig darüber und gibt dann eine Spur Salz und Pfeffer dazu. Jetzt noch ein Glas kalten Sauvignon blanc, eine Scheibe von dem Ciabattalaib, und sie hat alles.
Sie trägt ihr Abendessen, eine Zitronella-Duftkerze und eines ihrer Tagebücher auf ihre Gartenterrasse. Dort setzt sie sich mit ihrem wohlverdienten Festmahl hin, schlägt ihr Tagebuch auf und beginnt an der Stelle zu lesen, an der sie das letzte Mal aufgehört hat.
5. Juli 2003
In meinem Leben dreht sich im Moment alles um Kommunikation, oder vielmehr, um das Fehlen davon. Ich verbringe jede wache Stunde damit, Kommunikation von Anthony zu verlangen. Anthony, sag SAFT. SAFT. SAAAAFT. Sag das Wort. Sag mir, was du willst. Sag ICH WILL SAFT. Sag SCHAUKEL. Sag ICH WILL RAUSGEHEN UND AUF DER SCHAUKEL SCHAUKELN. Bitte. Sieh mich an, Anthony, und sag mir, was du willst. Sag mir, was du fühlst. Sag mir, warum du schreist. Normalerweise kann ich heraushören, ob es ein glücklich-aufgeregtes Schreien oder ein frustriert-panisches Schreien ist, aber im Moment bin ich zu erschöpft, und ich komme nicht dahinter. Warum schreist du? Wie soll ich dir helfen, wenn du mir nicht sagst, was du willst?
Und dann sind da David und ich. Wir wissen auch nicht, wie wir kommunizieren sollen. Wir sehen uns nicht mehr an. Ich ertrage es nicht, ihm in die Augen zu blicken und seine Verzweiflung zu sehen, seine Erschöpfung, manchmal den Vorwurf, und allzu oft den Wunsch, er wäre noch eine Stunde länger im Büro geblieben. Vielleicht wäre ich dann schon im Bett, und er müsste sich nicht mit mir und mit dem, was in meinen Augen zu sehen ist, befassen.
Wir reden nicht mehr miteinander. Nicht wirklich. Wir reden viel darüber, was erledigt werden muss. Hast du Anthonys SAFT gekauft? Ich fahre zum Supermarkt, brauchen wir SAFT? Wirst du Anthony auf der SCHAUKEL
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