Der Liebe eine Stimme geben
und Herman Melville an den Wänden; diese verdammte Uhr. Es ist alles zu ernst, zu gelehrt, zu einschüchternd. Zu viel Druck.
Sie hat genügend Gründe zu gehen, Ausreden, von absurd bis gerechtfertigt, und doch bleibt sie. Sie will schreiben. Sie sieht sich um, schaut auf die Bücher in den Regalen. Hunderte von Büchern, jedes von irgendjemandem geschrieben. Sie beschließt, sich inspiriert anstatt eingeschüchtert zu fühlen. Warum nicht von jemandem wie ihr?
Ihr Blick fällt auf ein Buch, das mit dem Titel nach vorn in dem Bücherregal genau am Fenster steht, im zweiten Fach von oben. Eine Seele lernt leben . Der Umschlag ist grau und weiß, mit einem Schwarz-Weiß-Foto eines kleinen Mädchens. Das Mädchen sieht vielleicht ein bisschen aus wie Sophie, als sie ein Krabbelkind war, aber diese leichte Ähnlichkeit ist nicht das, was ihre Aufmerksamkeit fesselt. Nichts davon – nicht der Titel, nicht der Umschlag, nicht einmal das Bild des Mädchens – erscheint ihr bemerkenswert oder besonders interessant, und doch fühlt sie sich zu diesem Buch hingezogen, fühlt sich seltsam von ihm angezogen.
Sie zwingt sich, den Blick abzuwenden, die anderen Bücherregale von ihrem Platz aus zu überfliegen. Sie findet keine anderen Bücher, die mit dem Titel nach vorn im Regal stehen. Kein Einziges. Sie sieht zurück zu Eine Seele lernt leben , hat wieder das Gefühl, den Blick nicht abwenden zu können, nicht weil es eine Ablenkung ist wie die Uhr oder ihre Handtasche, nicht um nicht auf ihre leere Seite starren zu müssen, sondern weil sie sich seltsam gezwungen fühlt, es anzusehen.
Es ist dasselbe Gefühl, das sie damals hatte, als sie Jimmy kennen lernte. Es war spätabends in der Chicken Box, Nantuckets legendärer Kellerbar. Sie konnte nicht aufhören, ihn anzusehen. Nicht weil er attraktiv war – obwohl er das war. In jenem Sommer wimmelte es auf Nantucket von attraktiven männlichen Singles, wohin sie auch sah. Und auch nicht, weil sie betrunken von Bier und Jell-O-Shots war – obwohl sie das war. An jenem Abend gab es nur Jimmy. Die ganze Bar war ein statisches Rauschen, und Jimmy war ein klarer Sender. Sie fühlte sich fast verzaubert von ihm, als wäre er ein Magnet, der sie anzog.
Und jetzt fühlt sich dieses Buch auf dem Regal genauso an. Sie starrt es an, gefesselt von seinem nicht fesselnden, schlichten Umschlag, während sie sich fragt, worum es darin geht. Mit enormer Willenskraft reißt sie sich von seinem Bann los und sieht wieder auf ihr leeres Blatt.
Leer. Leer. Einfach nur leer.
Tick. Tick. Tick.
Sie sieht zu dem Buch hoch, und jetzt hat sie das Gefühl, als ob das Mädchen auf dem Umschlag sie anstarrt.
Herrgott noch mal .
Sie geht zu dem Bücherregal und nimmt das Buch mit zurück an ihren Platz. Eine Seele lernt leben, von Clara Claiborne Park. Sie liest den Text auf der Vorder- und Rückseite. Es ist eine wahre Geschichte, der Bericht einer Mutter über ihre autistische Tochter. Beth hat Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone gut gefallen, aber Autismus ist kein Thema, über das sie normalerweise etwas lesen würde. Aber heute wird sie ganz offensichtlich den großen amerikanischen Roman nicht in Angriff nehmen. Und sie wird nicht zurückfahren und das Haus putzen. Sie steckt die Kappe auf ihren Stift, schlägt das Buch auf und beginnt zu lesen.
Stunden später klopft ihr jemand auf die Schulter, sodass sie zusammenzuckt. Sie blickt auf. Es ist Mary Crawford, die Bibliothekarin.
»Entschuldige, Beth, ich wollte dich nicht erschrecken, aber wir schließen in fünf Minuten.«
Beth sieht zu der Uhr hoch. Es ist fünf Minuten vor fünf. Sie schaut aus dem Fenster. Das hereinfallende Licht ist jetzt weicher, diffuser, deutet längere Schatten und den Abend an. Sie sieht auf ihre Armbanduhr. Fünf Minuten vor fünf. Wie konnte das passieren?
Sie betrachtet ihr Notizbuch.
Leer.
»Entschuldigung, ich habe mich völlig in dieses Buch vertieft.«
»Möchtest du es ausleihen?«
»Ja, bitte.«
Beth hat nichts geschrieben, und sie hat nichts geputzt, aber wenigstens hat sie ein gutes Buch zum Lesen gefunden.
Wieder zu Hause, hat sie noch immer jede Menge Zeit von ihrem freien Tag übrig, bevor die Mädchen nach Hause kommen. Sie könnte putzen oder etwas essen. Schließlich entscheidet sie sich für Letzteres. Sie ist am Verhungern. Seit dem Frühstück heute Morgen hat sie nichts mehr gegessen.
Beth macht sich ein Schinken-Käse-Sandwich und beschließt, sich zur
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