Der Liebe eine Stimme geben
anschubsen? Er schreit, weil er rausgehen und auf der SCHAUKEL schaukeln will. Wirst du den Müll rausbringen, einkaufen fahren, die Wäsche erledigen, die Rechnungen bezahlen? Die Rechnungen, die Rechnungen, die Rechnungen.
Wir sagen all diese Worte, aber wir reden über nichts. Es ist alles bedeutungslos. Bla, bla, bla.
Ich sage David nicht, was ich denke, dass wir Eltern eines dauerhaft behinderten Kindes sind und unsere Ehe verkrüppelt ist. Ich denke es jeden Tag, aber ich spreche die Worte nie aus. Ich sage es David nicht.
Wir haben keinen Sex mehr, und ich will keinen Sex mehr haben, aber ich vermisse den Teil von mir, der sich David früher verbunden gefühlt hat, den Teil, der geil war und Sex wollte. Wir reden nicht darüber.
Und wer würde nach den Tagen, die ich habe, schon noch Sex wollen? Ich bin erschöpft von Sorge und der physischen Anstrengung, mich um Anthony zu kümmern. Ich habe blaue Flecken von seinem Kneifen und seinen Tritten, und Bissspuren am ganzen Körper. Ich sehe missbraucht aus. Ich fühle mich missbraucht, aber ich sage es David nicht.
Ich fühle mich eigentlich nicht missbraucht von Anthony, ich fühle mich missbraucht von diesem Leben. Was ist aus meinem Leben geworden? Mein Leben dreht sich nur noch um Autismus. Wenn ich ihn nicht erlebe, dann lese ich darüber oder rede darüber, und ich bin es einfach so verdammt leid, dass ich kotzen könnte. Ich habe Angst, dass das alles ist, was je sein wird. Anthony hat Autismus, und er wird nicht SAFT oder SCHAUKEL sagen oder warum er schreit, und David und ich reden nicht mehr miteinander, sind Zellengenossen in demselben Gefängnis.
Oder bestenfalls sind wir Kollegen, autodidaktische Therapeuten, die mit demselben Patienten arbeiten, einem schönen Jungen namens Anthony, und die versuchen, ihn zu heilen. Nur dass es uns nicht gelingt. Wir heilen ihn nicht. Sein Autismus verschwindet nicht, und das ist dieser riesige rosa Elefant in unserem Wohnzimmer, und wir reden nicht darüber, was wirklich ist, dass wir für den Rest unseres Lebens mit Autismus leben werden und dass wir das akzeptieren müssen. Sosehr ich auch schreien und weinen und alles auf dieser Welt kurz und klein schlagen will, sosehr ich auch Widerstand leisten und kämpfen und betteln will, müssen wir doch Anthony mit Autismus akzeptieren.
Warum können wir nicht darüber reden? Warum sagen wir einander nicht, wie wir uns fühlen, was wir wollen, wovor wir Angst haben, dass wir uns immer noch lieben? Tun wir das denn? Lieben wir uns überhaupt noch?
Was für tolle Vorbilder sind wir doch für Anthony, hm? Hey, Anthony, REDE. Sieh, wie Mommy und Daddy es NICHT tun. Wir geben Anthony fünfunddreißig Stunden die Woche in Therapie, damit er lernt zu kommunizieren. Ich frage mich, wie viele Stunden die Woche David und ich brauchen würden …
Sie und David sind nie zu einer Paarberatung gegangen. Vielleicht hätten sie das tun sollen. Aber bei den ganzen Beschäftigungs- und Verhaltens- und Sprachtherapeuten für Anthony, den Eltern-Selbsthilfegruppen und schließlich der Trauerbegleitung, alles ohne Erfolg, waren sie nicht unbedingt begeistert von der Idee, noch einen Therapeuten zu noch mehr Kosten in ihr ohnehin schon therapiegesättigtes Leben einzuladen.
Olivia klappt ihr Tagebuch zu und denkt mit geschlossenen Augen nach. Sie ist ihre Einträge durchgegangen, jeden Tag ein kleines bisschen, hat ihre Vergangenheit gelesen, hat versucht, mit allem abzuschließen, Frieden zu finden. Sie schlägt die Augen auf. Nicht heute.
Sie seufzt und geht zurück in die Küche, um sich noch ein Glas Wein zu holen. Als sie die Kühlschranktür öffnet, hört sie ein schrilles Läuten. Sie hält inne, versucht zu ergründen, was das war. Sie hört ständig Dinge in diesem Haus, unheimliche, unerklärliche Geräusche, die sie anfangs erschreckten, nachdem sie hierhergezogen war, aber inzwischen verspürt sie dabei eher Neugier als Angst.
Der Nebel, der sich oft über die Insel legt, isoliert Geräusche im Allgemeinen, dämpft sie. Die Stille eines dichten Nebels auf Nantucket kann greifbar sein. Aber manchmal, und sie hat keine Ahnung, warum, verstärkt, verzerrt und verbreitet der Nebel Geräusche, sendet sie meilenweit fort von ihrer Quelle. Sie könnte schwören, sie hätte von ihrem Schlafzimmer aus schon Fischer auf ihren Booten reden hören. Und manchmal hört sie ein unheimliches, melodisches Wehklagen, bei dem sie gern denkt, dass es von Seehunden kommt, die vor der
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