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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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lassen.
    Olivia hält einen Moment inne, überlegt, ob sie zu ihrem Jeep zurückkehren und irgendwohin fahren soll, wo weniger Leute sind, oder ob sie hier weitergehen soll. Während sie über einen Ausflug zu Bartlett’s Farm nachdenkt, rempelt jemand sie an, schubst sie zur Seite.
    »Aufpassen, Lady«, sagt ein großer, schlaksiger Mann über die Schulter, während er an ihr vorbeieilt, ohne auch nur einen Moment innezuhalten.
    DU hast MICH angerempelt , denkt sie.
    Sie bleibt mitten auf dem gepflasterten Gehsteig stehen, zum Teil aus Trotz, zum Teil, weil sie nicht weiß, wohin sie gehen soll. Sie weicht nicht von der Stelle, während sich Dutzende von Leuten in beiden Richtungen an ihr vorbeischlängeln, als wäre sie ein Fels, der von wilden Stromschnellen umspült wird. Sie hat das seltsame Gefühl, an dieser Stelle festzukleben, während sie gleichzeitig eine wachsende Angst davor verspürt, dortzubleiben.
    Sie hätte zum Strand fahren sollen.
    Dann wird ihr bewusst, wo sie ist. Sie steht vor der St. Mary’s Church. Schon wieder.
    Sie weiß, sie hat sich geschworen, nie wieder in den Schoß der Kirche zurückzukehren, aber sie hat auch geschworen, David zu lieben und zu ehren, bis dass der Tod sie scheidet. Und jetzt lassen sie sich scheiden. Das heißt, sie hat ohnehin schon einen Schwur gebrochen.
    Und vielleicht glaubt sie ja doch immer noch an Gott. Seit David nach Chicago gezogen ist, redet sie auf einmal wieder mit Ihm. Sie ist auf diese Insel gekommen, um sich von allem und jedem loszusagen, um allein zu sein, und ihre selbst auferlegte Isolation war ein dringend benötigter Balsam für ihre gepeinigte Seele. Aber das Wissen, dass David noch immer in Hingham war, war eine Rettungsleine, an der sie sich mit beiden Händen festhielt. Sie konnte zurückkehren. Vielleicht nicht zu David oder zu ihrer Ehe – auch wenn selbst diese Möglichkeit, wenn sie ganz ehrlich war, noch immer bestand –, aber zurück zu ihrem Haus, ihrem Zuhause, ihrem Leben. Jetzt ist David in Chicago, und es gibt nichts mehr, wohin sie zurückkehren könnte. Es gibt nichts mehr, was sie mit ihrem alten Leben, mit dem Davor, verbindet. Das Davor ist verschwunden.
    Eine andere Familie wird in ihrem Haus leben, in dem Anthony aufwachsen sollte, um der beste Anthony zu werden, der er sein konnte, was immer das hätte sein können, in dem David und sie zusammen hätten alt werden sollen. Vielleicht wird irgendjemand anders dieses Leben dort haben. Jemand mit mehr Glück als sie. Jemand, der vom Schicksal gesegnet ist.
    Als David noch in Hingham war, konnte sie ihr Leben auf Nantucket als Probelauf ansehen, als einen Besuch, eine Auszeit, einen vorübergehenden Zustand der Isolation. Es war eine Übung, ein Versuch. Jetzt ist es echt. Das hier ist ihr Leben. Sie ist allein auf Nantucket, und es lässt sich nicht mehr rückgängig machen.
    Sie ist zu einem leeren Raum geworden, und trotz ihrer Trauer und ihres Widerstands ist Gott wieder hineingeschlendert. Auf einmal redet sie wieder mit Ihm, wenn sie in der Küche kocht, wenn sie die Wäsche erledigt, wenn sie am Strand spazieren geht. Sie erkennt, dass sie nicht nur mit sich selbst redet. Sie redet mit Gott. Und da hat sie es. Wenn sie mit Gott redet, dann muss sie glauben, dass es Ihn gibt.
    Sie stellt dieselben vertrauten Fragen, wartet still auf Antworten. Und in diesen stillen Augenblicken spürt sie ihre Einsamkeit ganz scharf, als könnte sie von ihr in zwei Hälften zerschnitten werden. Es ist keine Einsamkeit wegen David oder Anthony. Sie ist nicht einsam wegen des Verlustes ihres alten Zuhauses oder ihrer Freunde. Sie ist einsam wegen der fehlenden Antworten. Antworten sind die Gesellschaft, die sie sucht.
    Und ganz gleich, ob sie noch immer an Gott glaubt oder nicht, sie hat immer an Zeichen geglaubt. Irgendjemand oder irgendetwas ruft sie in diese Kirche. Sie eilt an der marmornen Maria vorbei, steigt die Stufen hoch und drückt mehr als nur ein bisschen widerstrebend die glänzende Teakholzpforte auf und tritt ein.
    Diese Kirche ist kleiner als St. Christopher’s in Hingham, mit vielleicht dreihundert Sitzplätzen für die Sonntagsmesse. Sie ist schwach erhellt, und nachdem Olivias Augen sich umgestellt haben, fällt ihr auf, dass alles brandneu aussieht – der rote Teppich, die polierten Bänke, die herrlichen Orgelpfeifen, die geflochtenen Nantucket-Körbe für die Kollekte. Und sie ist klimatisiert. Das Geld auf dieser Insel sickert überallhin.
    Niemand ist hier.

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