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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens aufgewacht. Ich habe vier Aspirin mit einem großen Glas Wasser geschluckt, und bis zum Mittagessen waren die schlimmsten Kopfschmerzen meines Lebens vorbei.
    Wir haben Pillen gegen Kopfschmerzen. Wir haben Antidepressiva gegen Traurigkeit. Wir haben Gott für die Gläubigen.
    Wir haben nichts gegen Autismus.
    Olivia hatte diesen Zusammenbruch ganz vergessen, hatte ihn in eine Kiste gestopft, sie abgeschlossen und im Keller ihres Gedächtnisses vergraben, aber nachdem sie heute Morgen ihren Tagebucheintrag gelesen hat, erinnert sie sich jetzt wieder daran, als wäre es gestern gewesen. Diese starken und hässlichen Emotionen, die an jenem Tag vor sechs Jahren Besitz von ihr ergriffen, regen sich wieder in ihr, geweckt von der Erinnerung, aber jetzt fühlen sie sich sanfter und unangebrachter an, wie ein Schatten, der zu jemand anderem gehört.
    Jetzt ist es später Vormittag, und sie geht zwischen den Touristenmassen durch die Stadt, in einem Versuch, sich von sich selbst abzulenken. Sie hat kein genaues Ziel im Sinn, vielleicht The Bean oder die Bibliothek oder Aunt Leah’s, um noch mehr Fudge zu kaufen, oder vielleicht wird sie einfach nur gehen. Gehen ist der Plan.
    Wenn Gehen der Plan ist, dann fährt sie normalerweise zum Fat Ladies Beach oder zu Bartlett’s Farm, Orte, an denen sie sich frei bewegen und sich in der Natur verlieren kann. Daher ist es seltsam, dass sie sich entschieden hat, hierherzukommen, eingezwängt auf den schmalen, gepflasterten Gehsteigen, wo ihr natürliches Tempo gebremst wird von den Touristen, die sich langsam vorwärtsschieben, von allen Seiten bombardiert von Einkäufern und einseitigem Handy-Gequassel.
    Sie spürt ihr eigenes Handy in ihrer Handtasche vibrieren und bleibt stehen, um danach zu suchen. Beim vierten Klingeln hat sie es gefunden.
    »Hallo?« Sie wartet. »Hallo?«
    Sie sieht auf die Vorwahl und erkennt sie nicht, aber das ist nichts Ungewöhnliches. Die Leute kommen aus der ganzen Welt nach Nantucket. Sie hat schon Strandporträts von Familien aufgenommen, die von so weit entfernten Orten wie Kalifornien und Deutschland kamen. Sie beginnt sich zu sorgen, dass sie eine Porträtsitzung, die für heute Morgen gebucht war, vergessen hat und dass die Familie nervös an irgendeinem Strand auf sie wartet. Aber die Sorge ist nicht echt. Sie weiß, dass sie heute frei hat. Und da niemand sich meldet, steckt sie das Handy zurück in ihre Tasche.
    Als sie wieder aufblickt, bemerkt sie, dass sie vor der St. Mary’s Church steht. Es ist eine hübsche Kirche, mit einer Fassade aus weißen Schindeln, einer großen Eingangspforte aus poliertem Teakholz und einem zweistöckigen Turm ohne Glocke. Eine schlichte Statue der Mutter Gottes, aus weißem Marmor gehauen, steht auf dem Rasen davor und heißt die Gemeindemitglieder mit ausgestreckten Armen willkommen.
    Aber Olivia ist kein Mitglied der Gemeinde. Maria heißt sie in dieser Kirche nicht willkommen. An dem Tag, an dem sie diesen Zusammenbruch hatte, schwor sich Olivia, nie wieder zur Kirche zu gehen. Wenn Gott ihr den Rücken kehrte, dann würde sie dasselbe mit Ihm tun. Dieses Spiel konnte man auch zu zweit spielen.
    Aber obwohl sie aufgehört hat, zur Sonntagsmesse zu gehen und die Sakramente zu empfangen, obwohl sie Gott die Schuld gegeben und Ihn gehasst hat, hat sie weiter gebetet. Sie hat keine Schau daraus gemacht, und sie hat aufgehört, sich zu bekreuzigen, aber sie hat weiter ihre Gebete für Anthony geflüstert. Sie hat unter der Dusche gebetet, wenn sie sich die Zähne geputzt hat, wenn sie an einer roten Ampel halten musste, wenn sie bei Costco in der Schlange stand, um Windeln für einen Sechsjährigen zu kaufen, vor dem Abendessen, vor dem Zu-Bett-Gehen. Sie hat weiterhin gebetet, denn obwohl sie Ihm den Rücken gekehrt hatte, war ihr Boykott Gottes mehr Gehabe als echte Überzeugung. Sie hat noch immer geglaubt.
    Bis letztes Jahr, als sie ganz aufgehört hat, an Ihn zu glauben.
    Sie geht weiter die Federal Street hinunter. Überall sind Leute, nehmen jeden nur erdenklichen Platz im Freien in Anspruch. Sie essen und trinken draußen an Tischen, fahren Fahrrad, führen ihre Hunde aus, schlürfen Eiskaffee auf Bänken, sehen sich Schaufenster an, während sie gehen und sich auf ihren Handys unterhalten. Ein steter Strom von Leuten in ihren Autos schiebt sich durch jede Straße, und die Schlange hält nur an, um Grüppchen von Fußgängern an Zebrastreifen über die Straße zu

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