Der Liebe eine Stimme geben
nach »Ausdruck von Gottes Liebe« aufgesprungen und zur Tür gelaufen. Aber aus irgendeinem Grund, vielleicht weil sie sich von Father Doyles besänftigender Stimme nicht gekränkt fühlt, vielleicht weil sie heute mehr Geduld als Wut in sich hat, vielleicht weil sie den blauen Stuhl mag, auf dem sie sitzt, bleibt sie auf ihrem Platz.
»Jeden Abend seines Lebens habe ich ihn ins Bett gesteckt und gesagt: ›Gute Nacht, Anthony. Ich liebe dich.‹ Und ich weiß nicht, ob er je begriffen hat, was das bedeutete. Ich meine, es ist nicht so, dass er uns nicht verstanden hat. Er hat vieles verstanden, aber Liebe, ich weiß nicht. Er war gut bei konkreten Dingen, bei klaren Regeln und Routinen. Er mochte Ordnung. Aber alles Soziale, andere Leute, geteilte Emotionen, das schien er gar nicht wahrzunehmen, oder es schien ihm nichts zu bedeuten. Daher weiß ich es nicht.«
Sie weiß, dass er seine Steine und Barney und Schaukeln geliebt hat, aber Dinge zu lieben ist etwas anderes, als einen anderen Menschen zu lieben. Gegenseitige Liebe ist etwas anderes. Er ließ sich von ihr nicht umarmen oder küssen. Sie konnten sich nicht in die Augen blicken. Er konnte ihr nicht sagen, was er fühlte. Er konnte nicht sagen: Gute Nacht, Mom. Ich liebe dich auch .
»Aber Sie haben ihn trotzdem geliebt.«
»Natürlich. Ich habe ihn abgöttisch geliebt.«
Sie beißt die Zähne zusammen und schluckt, kämpft mit den Tränen, aber es nützt nichts. Sie lassen sich nicht aufhalten. Father Doyle reicht ihr eine Schachtel Taschentücher.
»Ich weiß nicht, ob er sich geliebt gefühlt hat.«
»Kinder, die taub sind und die Worte Ich liebe dich nie hören oder sagen können, fühlen Liebe. Kinder, die ohne Gliedmaßen geboren werden oder ihre Arme verlieren und nicht mehr umarmen können, fühlen dennoch Liebe. Liebe wird über Worte und Berührungen hinaus gefühlt. Liebe ist Energie. Liebe ist Gott.«
»Ich weiß. Und ich weiß, dass andere Eltern Kinder haben, die mit Behinderungen geboren werden oder die Krebs oder einen tragischen Unfall haben, und ich weiß, dass ich nichts Besonderes bin oder etwas Besseres verdient habe, aber ich verstehe es trotzdem nicht. Ich habe das Gefühl, diese anderen Eltern können wenigstens sagen, dass sie ihr Kind lieben und dass es auf Gegenseitigkeit beruht, dass es wichtig ist. Und das spendet Trost.
Diese anderen Mütter können ihre Kinder wenigstens umarmen und auf dem Schoß wiegen und sagen:
›Ist ja gut. Ich bin da. Ich liebe dich.‹ Und diese Kinder können die Liebe ihrer Mutter in ihren Augen sehen und sie fühlen. Das hatte ich mit Anthony nie. Wenn Anthony litt, dann hat er geschrien und geweint, und wir wussten nie, was los war oder was wir dagegen tun könnten. Wir wussten nicht, ob er Bauchweh hatte oder Zahnschmerzen oder ob er auf die Schaukel wollte oder ob ich versehentlich einen seiner Steine verschoben hatte. Ich hatte das Gefühl, nie nah genug an ihn heranzukommen, um ihn zu trösten.«
»Und was ist mit Ihnen? Sie brauchten auch Liebe und Trost«, sagt Father Doyle.
Sie nickt und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht. »Und jetzt ist Anthony nicht mehr da, und sein Vater und ich lassen uns scheiden, und es gibt nichts mehr. Es gibt nichts.«
»Es gibt Sie, und es gibt Gott.«
»Wo ist Er denn dann? Wo war Er die letzten zehn Jahre?«
»Ich weiß, es kann schwer sein, den Glauben nicht zu verlieren. Bürden dieser Art können unseren Glauben entweder stärken oder ihn zerstören. Selbst Jesus hat am Kreuz gesagt: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‹ So schwer es für uns Menschen auch zu begreifen sein kann, Er ist immer da.«
»Ich fühle mich völlig allein.«
»Sie sind nicht allein. Gott ist bei Ihnen.«
»Ich höre keine Antworten auf meine Fragen.«
»Sie werden Ihn nicht mit Ihren Ohren hören. Sie müssen mit Ihrem Herzen hören, mit Ihrem Geist. Seine Antworten sind da, in Ihnen.«
»Ich weiß nicht«, sagt sie kopfschüttelnd.
»Stellen Sie weiter Ihre Fragen. Halten Sie weiter Zwiesprache mit Gott und versuchen Sie mit Ihrem Geist zu hören.«
Sie nickt, aber sie ist skeptisch und nicht sicher, worauf genau sie sich da einlässt. Sie bedankt sich bei Father Doyle für seine Zeit und sagt ihm, dass sie gehen muss. Er legt ihr eine Hand auf die Schulter und sagt ihr, dass sie jederzeit zu ihm kommen kann.
Sie geht an dem Altar vorbei, an ihren drei entfachten Kerzen, und zurück nach draußen. Das grelle Sonnenlicht blendet sie,
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