Der Liebe eine Stimme geben
zwingt sie, die Augen zusammenzukneifen und einen Moment zu warten. Und in diesen wenigen Sekunden, in denen sie die Augen geschlossen hat, sieht sie Anthony vor sich – sein ungeschnittenes braunes Haar, seine tiefbraunen Augen, die Freude in seinem Lächeln. Sie lächelt, sie liebt ihn.
Dann, bevor sie die Kirchenstufen hinuntersteigt, denkt sie nach. Wenn sie Anthony ohne ihre Augen sehen kann, dann kann sie vielleicht Gott ohne ihre Ohren hören.
Gott, warum war Anthony hier? Warum hatte er Autismus?
Sie schlägt die Augen auf und versucht mit ihrem Geist zu hören, während sie auf den belebten Gehsteig tritt.
SIEBZEHN
----
Beth duscht, zieht sich an und macht Pfannkuchen zum Frühstück. Sie packt drei Lunchpakete, wischt den Tisch ab, spült das Geschirr und gießt die Pflanzen. Sie setzt die Mädchen am Gemeindezentrum ab, fährt in die Innenstadt und findet problemlos einen Parkplatz in der India Street, wie immer dankbar, dass die Touristen lange schlafen. Alles an diesem Morgen ist wie immer, bis sie die Bibliothek betritt. Und dann ist alles anders.
Jemand sitzt auf ihrem Platz.
Es ist eine ältere Frau, mindestens siebzig, mit kurzen, schlohweißen Haaren und einer dicken Brille, die sie an einer Perlenkette um den Hals trägt. Einen Bleistift in der Hand, arbeitet sie an etwas, das nach einem Sudoku-Rätsel aussieht. Wollknäuel, Stricknadeln und ein Taschenbuch ragen aus einer Quilttasche hervor, die neben ihr auf dem Boden steht. Großer Gott, diese Frau kann sich für den Rest des Tages hier eingerichtet haben. Hier auf Beths Platz.
Natürlich weiß Beth, dass der Stuhl nicht ihr gehört. Es ist nicht »ihr Platz«. Aber sie hat jeden Morgen auf diesem Stuhl gesessen, seit sie zu Beginn des Sommers angefangen hat, zum Schreiben hierherzukommen. Sie sitzt gern mit dem Rücken zu den Stapeln von Büchern, mit Blick zum Fenster, so, dass sie die Uhr sehen kann. Sie mag die linke Ecke des Tischs, mit reichlich Platz zu ihrer Rechten, um ihre Notizbücher und Papiere und ihren Laptop auszubreiten. Und wenn sie ganz ehrlich ist, glaubt sie an die magischen Kräfte dieses Platzes. Auf genau diesem Platz hat sie Seite um Seite geschrieben, ohne an ihrer eigenen Prosa herumzukritteln, ohne sich über ihre Dialoge lustig zu machen, ohne von Angst ergriffen zu werden, ohne aufzuhören. Solange sie auf diesem Holzstuhl an diesem Holztisch mit Blick nach Osten sitzt, kommt die Geschichte des Jungen immer weiter voran, und sie schreibt sie immer weiter auf.
Und jetzt missbraucht irgendeine ältere Frau mit schlechten Augen seine magischen Kräfte, um Sudoku-Rätsel zu lösen.
Sie wägt ihre Optionen ab. Sie könnte sich auf den Stuhl neben der Frau setzen, zu nah an sie heranrutschen, sich die Nase putzen, sich räuspern, Kaugummi kauen und mit dem Stift gegen ihre Zähne klopfen, bis die Frau sich so sehr ärgert, dass sie sich einen anderen Platz sucht. Sie könnte die Frau in einem höflichen, unverfänglichen Ton bitten, ob sie so freundlich wäre, sich auf einen anderen Stuhl zu setzen. Sie könnte nach Hause fahren und putzen. Oder sie könnte eine reife Erwachsene sein und sich einen anderen Platz suchen.
Sie wählt einen Stuhl auf der anderen Seite des Tischs, in einem respektvollen Abstand, aber so nah, dass sie ihre Sachen im Nu zusammenraffen und ihren rechtmäßigen Platz zurückerobern kann, sollte die Frau beschließen, zu gehen. Sie klappt Sophies Laptop auf, den diese sich jetzt widerwillig mit ihr teilt, und starrt auf den Bildschirm. Sie sitzt mit Blick nach Westen, und ihr Stuhl wackelt. Sie klopft mit dem Fingernagel gegen ihre Zähne und seufzt, findet sich mit der offenkundigen Wahrheit ab. Dieser Stuhl hat nichts Magisches an sich.
Nach einer Weile dreht sie sich um und sieht zu der Uhr hoch. Sie ist jetzt seit einer Stunde hier und hat noch nichts getan, außer zu lesen, was sie bereits geschrieben hat. Und wie sie befürchtet hat, strickt die Frau jetzt. Vielleicht sollte Beth nach Hause fahren. Sie starrt auf den Cursor, beschwört ihn, etwas hervorzubringen, als wäre er eine Planchette auf einem Ouija-Brett. Keine Worte kommen, aber das Spiegelbild einer Frau erscheint auf dem Bildschirm. Beth schnellt auf ihrem Stuhl herum. Courtney steht lächelnd hinter ihr.
»Hey, setz dich doch«, sagt Beth, erleichtert über die Ablenkung. »Was machst du denn hier?«
»Ich hatte in der Stadt etwas zu erledigen. Dachte, ich schaue mal vorbei, um zu sehen, wie’s dir geht. Wie
Weitere Kostenlose Bücher