Der Liebe eine Stimme geben
Die tägliche Messe wurde vermutlich bereits heute Morgen gelesen, und die Beichten werden samstagnachmittags abgenommen. Bevor sie in den vorderen Teil der Kirche geht, kniet sie sich vor einen Tisch mit Gebetskerzen. Die Kerzen hier sind nicht echt. Sie sind aus Plastik, batteriebetriebene Lämpchen in Kerzenform. Die Stadt Nantucket ist so oft niedergebrannt, dass jeder auf dieser Insel, wenn nicht offen ängstlich, zumindest ein wenig abergläubisch ist, was Feuer betrifft, offenbar sogar die katholischen Priester.
Sie dreht eine der Kerzen um, drückt auf den Einschaltknopf und stellt sie zurück auf den Tisch. Sie schimmert orangefarben, aber es ist nicht annähernd so befriedigend wie eine richtige Flamme. Sie »entfacht« noch eine Kerze für Anthony, wie sie es früher immer getan hat, und dann noch eine. Eine für David. Sie schließt die Augen und versucht zu beten, aber sie kann keine Worte finden. Sie hat schon lange nicht mehr in einer Kirche zu Gott gebetet. Sie presst die Handflächen aneinander und versucht es noch einmal. Keine Worte.
Vielleicht sollte sie es mit den Worten von jemand anderem versuchen, mit einem vorgefertigten Gebet wie einem Ave-Maria oder dem Vaterunser. Sie beginnt ein Ave-Maria zu flüstern, aber nach dem der Herr ist mit dir bricht sie ab. Die Worte kommen ihr auswendig gelernt und bedeutungslos vor, als würde sie einen Kinderreim aufsagen. Das sind nicht die Worte, die sie hierhergeführt haben. Sie lässt ihre drei »entfachten« Kerzen stehen und geht zum vorderen Teil der Kirche, hinter den Altar, und findet eine geschlossene Tür. Sie steht über eine Minute dort, bevor sie den Mut aufbringt, anzuklopfen.
»Ja? Herein.«
Olivia öffnet die Tür zu einem kleinen Wohnzimmer. Ein Priester sitzt in der Mitte eines braunen Sofas, genau unter einem Messingkruzifix an der Wand. Er hält ein geschlossenes Buch in den Händen. Eine Leselampe zu seiner Linken ist eingeschaltet. Ein unberührter Keks liegt auf einem weißen Teller, der rechts von ihm in der Mitte eines elfenbeinfarbenen Deckchens auf einem kleinen Holztisch steht.
»Bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagt sie.
»Sie stören überhaupt nicht. Bitte setzen Sie sich.«
Es gibt zwei Stühle, einen eher schlichten mit einem geblümten Schonbezug und einen Queen-Anne-Stuhl, der in einem leuchtenden Pfauenblau gepolstert ist. Sie wählt den Queen-Anne-Stuhl und nimmt Platz, die Hände im Schoß gefaltet. Sie starrt einen Moment zu Boden. Er ist mit schwarzen und weißen Sechsecken gefliest. Anthony hätte diesen Boden geliebt.
»Ich bin Olivia Donatelli. Ich war noch nie in dieser Kirche.«
»Willkommen in St. Mary’s. Ich bin Father Doyle.«
Father Doyle hat einen vollen, silbergrauen Haarschopf und ein rosig strahlendes Gesicht, eher von innen gerötet als von einem Sonnenbrand. Er trägt ein kurzärmeliges schwarzes T-Shirt, eine schwarze Hose, schwarze Turnschuhe und keinen Kragen.
»Ich bin mir nicht ganz sicher, warum ich hier bin.«
Father Doyle wartet.
»Ich habe die Kirche vor fünf Jahren verlassen, aber ich habe gebetet.«
»Sie haben die Kirche nicht verlassen, wenn Sie mit Gott Zwiesprache halten.«
»Na ja, ich würde es nicht Zwiesprache nennen. Es gibt kein Gespräch. Ich stelle Fragen und bekomme keine Antworten. Ich führe nur Selbstgespräche, glaube ich.«
»Was haben Sie für Fragen?«
Sie presst die Hände zusammen und holt einmal tief Luft. »Mein Sohn hatte Autismus. Er war nonverbal und konnte keinen Blickkontakt aufnehmen, und er ließ sich nicht gern berühren. Und dann, als er acht war, ist er nach einem Anfall an einem subduralen Hämatom gestorben. Daher will ich wissen, warum. Warum hat Gott meinem Sohn das angetan? Warum war er hier und musste dann so bald wieder gehen? Warum hatte ich ihn? Was war der Sinn seines Lebens?«
»Das sind schwierige Fragen.«
Sie nickt.
»Aber es sind gute Fragen. Es sind wichtige Fragen. Ich bin froh, dass Sie nicht aufgehört haben, sie zu stellen.«
»Was glauben Sie?«
»Ich weiß nicht viel über Autismus, aber ich weiß, dass jeder Mensch als Ausdruck von Gottes Liebe geschaffen ist.«
Sie hat diese Art vorgefertigte katholische Standardantwort schon früher von den Priestern in Hingham gehört, und sie war immer das Ende des Gesprächs. Ein vager Hinweis auf Gottes universelle Liebe ist keine Hilfe. Im Gegenteil, er hat den schweren Sturm, der ohnehin schon in ihr wütete, damals eher noch verstärkt. Normalerweise wäre sie
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