Der Liebe eine Stimme geben
zu dämmern, während sie darauf wartet, dass die Mädchen wiederkommen, fährt sie in die Bibliothek, um zu schreiben.
Sie springt die Treppe in den ersten Stock hoch, aber dann sackt ihre Stimmung in den Keller. Vier Leute sitzen an ihrem sonst immer leeren Tisch. Eddy Antico von der Handelskammer sitzt auf ihrem Platz, und Pamela Vincent liest laut auf dem Podium auf der Bühne. Beth geht hinüber zu Mary Crawford am Auskunftsschalter.
»Was ist denn hier los?«, flüstert Beth.
»Das ist die Fünfundzwanzig-Stunden-Lesung von Moby Dick .«
»Wirklich? Bei welcher Stunde sind sie denn?«
Mary sieht zu der Uhr hoch und zählt leise. »Sechs Stunden, vierzig Minuten. Willst du lesen? Wir können dich so ziemlich überall zwischen vier und sechs Uhr morgens einschieben.«
Das glaube ich dir sofort!
Mary zeigt Beth den Leseplan. Rose Driscoll, Vorsitzende des Gartenvereins und mindestens siebzig Jahre alt, ist für die Lesung um drei Uhr morgens angemeldet. Mary Crawford ist für sechs Uhr eingetragen.
»Nein, nein, danke.« Beth versucht sich das Lachen zu verbeißen. Sie kann sich nicht vorstellen, warum ein geistig gesunder Mensch sich allen Ernstes vornehmen sollte, um vier Uhr morgens – oder zu irgendeiner anderen Zeit – in der Bibliothek zu sein, um Moby Dick zu lesen oder sich anzuhören. Unterhaltung auf Nantucket in der Nebensaison ist eine höchst subjektive Angelegenheit.
Beth sieht sich in dem Raum um, sucht resigniert und vergeblich nach einer Möglichkeit, zu bleiben und zu schreiben. Sie wünscht, sie müsste nicht gehen. Sie könnte versuchen, unten oder im The Bean zu schreiben, oder sie könnte in ihrem stillen Haus am Küchentisch schreiben, aber was den Ort betrifft, an dem sie schreibt, ist sie abergläubischer geworden als ein Baseballspieler mit einer Erfolgssträhne. Sie muss in der Bibliothek sitzen, an dem langen Tisch auf dem Platz unmittelbar vor der Bühne, mit Blick zum Fenster. Sie weiß, dass ihr völliges Vertrauen in diese starren Bedingungen geradezu krankhaft ist, und es kann eigentlich nicht wahr sein, aber sie glaubt dennoch daran. Und deshalb ist es wahr. Hier kann sie die Inspiration spüren. Hier kommt Anthonys Geschichte zu ihr. Hier passiert die Magie.
Widerstrebend geht sie hinaus und zieht den Reißverschluss ihrer Jacke zu. An ihrer Wagentür hält sie inne. Sie ist den ganzen Weg in die Stadt gekommen, und sie will nicht einfach umkehren und nach Hause fahren, ohne irgendetwas ausgerichtet zu haben. Was sonst könnte sie hier tun? Vielleicht ist Georgia in der Blue Oyster. Vielleicht hat sie Lust auf eine Pause und einen Drink an der Hotelbar. Ein perfekter Plan.
Sie geht mit raschen Schritten die vier Blocks hinunter, freut sich auf Georgia und einen großen Martini, aber als sie das Blue-Oyster-Gelände erreicht, sieht sie eine Hochzeitsfeier, die an dem künstlichen kleinen Strand im Gange ist, und sie bleibt ernüchtert stehen. Eine Hochzeit heißt, dass Georgia alle Hände voll zu tun und keine Zeit für einen Drink haben wird. Und jetzt? Sie ist den ganzen Weg in die Stadt gefahren und den ganzen Weg bis zur Blue Oyster gelaufen.
Ein gutes Stück hinter den zwei ordentlichen Reihen weißer Klappstühle entdeckt sie Georgia und beschließt, zu ihr zu gehen und wenigstens kurz Hallo zu sagen.
»Hey!«, flüstert Beth, als sie neben ihrer Freundin steht.
»Hey!«, flüstert Georgia.
Georgias Gesicht ist gerötet vor Bewunderung und rührseliger Freude. Sie tupft sich mit einem Taschentuch die Augen. »Sie haben ihre Ehegelübde selbst geschrieben. Ich liebe es, wenn die Leute das tun.«
Beth sieht hinüber zu dem Brautpaar und versucht die beiden zu hören. Sie hört die Stimme des Bräutigams, aber weil er von ihr abgewandt steht, kann sie nicht verstehen, was er sagt. Das Gesicht der Braut ist jung und strahlt. Beth fragt sich, ob ihr eigenes Gesicht annähernd so ausgesehen hat, als sie Jimmy geheiratet hat. Sie nimmt es an. An ihrem Hochzeitstag hat sie gestrahlt. Aber irgendwann im Laufe ihrer Ehe, ohne dass sie genau sagen könnte, wann, ist das Strahlen verschwunden. Jimmy hat recht. Sie freut sich schon lange nicht mehr, ihn zu sehen. Im Bett, auf der Couch, am Küchentisch, wenn er zur Haustür hereinkommt – kein Strahlen. Kann sie es zurückbekommen, oder ist ihr Jimmy-Strahlen für immer verschwunden? Hat sie ein wenig von diesem Strahlen heute wieder gespürt?
Sie sieht hinüber zu Georgia, die unmöglich verstehen kann, was der
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