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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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anderen im September von Nantucket abreisten, als wäre im wahrsten Sinne des Wortes der Zug ohne sie abgefahren. Sie hat keine Strandporträtsitzungen mehr in ihrem Terminkalender. Die Seiten für Oktober, November und Dezember sind leer. Sie hat noch immer jede Menge Fotos zu bearbeiten, Arbeit, mit der sie mindestens noch den nächsten Monat beschäftigt sein dürfte, aber jeden Morgen, wenn sie aufwacht, fühlt sie sich, als hätte sie nichts zu tun. Keine Routine. Kein Sinn.
    Sie denkt ständig an Anthony, wird in unerwarteten Augenblicken von lebhaften sensorischen Erinnerungen an ihn durchzuckt. Wenn sie die Augen schließt, sieht sie sein lockiges Haar in seinem Nacken, seine kleinen Hände und Finger, die genauso aussahen wie ihre, seine knubbeligen Schultern, die friedliche Stille seines Gesichts im Schlaf. Wenn sie abends auf die Grillen lauscht, hört sie das Geräusch seiner nackten Füße, die über den Boden laufen, die Melodie seines Lachens, sein eia-eia-eia . Wenn sie die frische Herbstluft einatmet, riecht sie seine Haut, so wie sie nach einem Tag in der Sonne oder einem Schaumbad gerochen hat.
    Sie versucht noch immer das Warum von alledem zu begreifen, betet, versucht, mit ihrem Geist auf Antworten von Gott zu horchen, noch immer absolut unsicher, wie sie das eigentlich anstellen soll. Sie fühlt sich, als ob sie versucht, mit den Augen zu riechen oder mit der Nase zu hören, oder, erst recht unmöglich, als ob sie versucht, irgendeinen Teil ihrer Anatomie oder ihres Wesens, von dem sie nicht einmal weiß, ob er existiert, zu ermuntern, eine Antenne zu werden, eine Satellitenschüssel, die im Stande ist, Weisheiten vom Himmel zu empfangen. Es fühlt sich unproduktiv und mehr als ein bisschen verrückt an.
    Aber heute ist ein guter Tag, eine Ablenkung von unerhört gebliebenen Gebeten und zielloser Einsamkeit. Heute ist sie die Assistenzfotografin für Roger Kelly bei einer Hochzeit in der Blue Oyster. Roger ist der gefragte Hochzeitsfotograf auf der Insel. Seine Assistentin hatte irgendeinen familiären Notfall auf dem Festland, sodass Roger händeringend jemanden suchte. Olivia hat im Juli das Strandporträt der Familie Morgan aufgenommen, und Mrs. Morgan ist die beste Freundin der Mutter der Trauzeugin, und über diese Mundpropaganda in letzter Minute hat Olivia den Job bekommen. Es ist ein langer Tag und wird nicht gut bezahlt, kaum mehr als für eine Porträtsitzung, aber sie wird nichts schneiden müssen, und sie ist froh, etwas zu tun zu haben.
    Roger hat sie gebeten, die eher dokumentarischen, fotojournalistischen Bilder einzufangen, die heutzutage angesagt sind, während er sich um die gestellten, eher förmlichen und traditionellen Aufnahmen kümmert. Er ist für die Pflicht zuständig, sie für die Kür. Sie scrollt ein paar der Bilder durch, die sie bereits in ihrer Kamera hat, hält bei ihren Lieblingsbildern inne und nickt. Der Vater der Braut, wie er seine Tochter auf die Wange küsst. Die lachende Braut. Der Bräutigam, wie er seiner Braut ins Ohr flüstert. Das Blumenmädchen im Vorschulalter, das den Tüll ihres Kleides hochhebt, um ihre Lackleder-Mary-Jane-Schuhe zu sehen.
    Die Trauzeremonie hat an dem bescheidenen, künstlich angelegten Strand der Blue Oyster stattgefunden, mit Blick über den Hafen, und der Empfang auf der Terrasse des Hotels ist jetzt in vollem Gange. Inzwischen ist es Abend, und der Himmel ist erhellt von einem strahlenden Mond und funkelnden Sternen. Ein loderndes Feuer in der gemauerten Feuerstelle und Heizstrahler, die wie Laternenpfähle zwischen den Tischen aufgestellt sind, verhindern, dass die kühle Nachtluft durch die Seiten des eleganten weißen Zelts dringt. Olivia fotografiert den Mond über dem Hafen, die Teelichter und die Glasschalen mit Cranberrys auf den weißen Leinentischtüchern, den Brautstrauß aus weißen Rosen neben einem Glas Champagner.
    Die Action findet jetzt auf der Tanzfläche statt, aber Olivias Aufmerksamkeit wird auf einen Jungen gelenkt, der allein an einem Tisch für sechs Personen sitzt. Er scheint sieben oder acht zu sein, er hat lange, blonde Wuschelhaare, und er trägt ein weißes Hemd, eine Khakihose und Bootsschuhe. Er ist hinreißend. Er hat sich die Zeigefinger in die Ohren gesteckt, sodass seine Ellenbogen seitlich abstehen, und er wippt auf seinem Platz hin und her. Klick, klick, klick. Olivia sieht auf das LCD -Display ihrer Kamera. Sein Blick ist verträumt, verloren.
    Die Band spielt die letzten Takte von

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