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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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so dumm sein?
    Sie stellt sich vor, wie Jill und Courtney bei ein paar Gläsern eisgekühltem Chardonnay über sie lästern. Die armen Mädchen, ohne ihren Vater aufwachsen zu müssen. Beth hat ihm nicht einmal eine Chance gegeben. Wir sind alle nur Menschen. Wir machen alle Fehler .
    Sie macht sich Sorgen, dass jeder, den sie kennt, sie so oder so verurteilen wird. Sie schüttelt den Kopf und schließt die Augen, versucht alle Argumente zu ignorieren, die ihr sagen wollen, was sie tun sollte , was alle anderen, selbst ihre Kinder, denken, versucht einen klaren Kopf zu bekommen und sich nach innen zu konzentrieren, um herauszufinden, was für sie in ihrem einst strahlenden Herzen richtig und wahr ist. Es ist eigentlich eine ganz einfache Frage.
    Liebt sie Jimmy genug, um ihn zurückzunehmen?
    Sie schlägt die Augen auf. Das Brautpaar hatte seinen großen Auftritt auf dem Empfang und tanzt jetzt den ersten Tanz als Ehemann und Ehefrau. Das Gesicht des Bräutigams ist angespannt und konzentriert, und sie bewegen sich nicht wirklich fließend über die Tanzfläche, die offensichtliche Folge von nicht genügend Tanzstunden, aber das Bemühen, auch wenn es unbeholfen aussieht, ist rührend. Beth und Jimmy haben nicht einmal versucht, richtige Schritte für ihre Hochzeit zu lernen. Sie stolperten einfach hin und her wie Teenager auf einer Schulparty.
    Die Braut ist entspannt und strahlt. Ihr unbeholfener Ehemann hat vermutlich Tanzstunden mit ihr genommen, vermutlich einen Abend pro Woche, und vermutlich hat er jede Sekunde davon gehasst, aber er hat es getan. Er hat es getan, weil er sie liebt. Er ist gewillt, für das Glück seiner Liebsten wie ein Idiot vor einhundert Leuten zu tanzen. Zehn Jahre vorgespult, und sie wird von Glück reden können, wenn er gewillt ist, das Toilettenpapier aufzufüllen oder einen Teller zu benutzen.
    »Ich liebe es, wenn ein Mann tanzen kann«, sagt Georgia.
    »Er ist nicht unbedingt Gene Kelly.«
    »Er versucht es. Ich liebe das.«
    Auf den ersten Tanz folgen dann die anderen traditionellen Tänze – die Braut mit ihrem Vater (er kann auch nicht tanzen), der Bräutigam mit seiner Mutter, und dann der Bräutigam mit seiner Großmutter, was noch mehr Bewunderung bei Georgia hervorruft. Wenn ihn sich nicht eben eine andere geangelt hätte, dann würde sie sich auf ihn stürzen. Jetzt steht die Tanzfläche allen offen. Die fünfköpfige Band ist feierlich und laut. Außer Stande, einander zu verstehen, ohne zu brüllen, haben Beth und Georgia aufgehört zu plaudern. Georgia sieht auf ihre Armbanduhr. Sie schnappt sich ein Glas von einem Tablett mit Champagnerflöten.
    »Hey, bleib doch einfach und trink ein Glas Champagner! Ich muss mich nur noch rasch um eine Sache kümmern, und dann können wir gehen!«
    »Okay!«
    Beth lehnt sich gegen die Wand, nippt an ihrem Champagner und beobachtet die Leute, schüchtern jetzt, wo sie allein ist, in dem deutlichen Bewusstsein, dass sie Jeans trägt und bei einem Hochzeitsempfang ist, zu dem niemand sie eingeladen hat. Sie meidet den Blickkontakt zu jedem Fremden, der auf dem Weg zu den Toiletten an ihr vorbeigeht, in der Hoffnung, dass niemand sie anspricht oder fragt, woher sie das Brautpaar kennt oder, Gott behüte, sie zum Tanzen auffordert.
    Sie beginnt sich für einen kleinen Jungen zu interessieren, der allein an einem der vorderen Tische sitzt. Er hält sich die Ohren zu und wippt auf seinem Platz hin und her. Autismus. Inzwischen weiß sie aus den Büchern, die sie gelesen hat, aber auch aus dem Buch, das sie selbst schreibt, genug über Autismus, um ihn überall zu erkennen. Und wie eine unbekannte Vokabel, die sie zuvor nie gehört hatte, sieht sie es jetzt, da sie sie gelernt hat, überall.
    Aber ihr Schreiben hat nicht nur dazu geführt, dass sie Autismus erkennt. Wenn sie jetzt ein Kind mit Autismus sieht, so wie diesen niedlichen kleinen Jungen an dem Tisch, verspürt sie eine mitfühlende Verbundenheit, eine Weichheit in ihrem Herzen, als wären sie Freunde, die ein intimes Geheimnis teilen. Bevor sie ihr Buch zu schreiben begann, hätte sie diesen Jungen angesehen und gedacht: Er scheint seltsam. Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Jungen. Und dann hätte sie bewusst weggeschaut. Jetzt lächelt sie, während sie ihn beobachtet, und denkt: Ich weiß, es ist viel zu laut hier drinnen. Ich will auch von hier verschwinden .
    Die Eltern des Jungen sehen immer wieder nach ihm, aber er schenkt ihnen keine Beachtung. Guter Junge. Er ist

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