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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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lähmt sie für eine Sekunde, aber dann schaltet sich ein mächtiger und gut ausgebildeter Instinkt ein.
    Wo sind die Ausgänge? Sie betrachtet die Tür zum Hotel, die zum Parkplatz führt. Er will nach Hause, und der Wagen ist das Mittel dafür. Der Wagen ist vertraut und sicher. Oder vielleicht sind sie auch in dem Hotel abgestiegen. In beiden Fällen müsste er sich zwischen den ganzen Leuten hindurchwuseln, die auf dem Weg von und zu den Toiletten sind und in der lauten Lobby, zwischen dem Portier und dem Empfang, umherlaufen.
    Sie sieht in die andere Richtung, weg von den Leuten und dem Zelt und dem ganzen Lärm, über den Rasen zu dem windigen Pfad, der zu einer Treppe führt, zum Strand, zum Hafen. Zum Wasser. Wenn Anthony hier wäre und Reißaus genommen hätte, dann wäre er dorthin gegangen.
    Olivia vergisst alles andere und rennt los. Mit ihren hohen Absätzen sinkt sie bei jedem Schritt in die weiche Erde unter dem Rasen der Blue Oyster ein, bleibt hängen, wird zurückgeworfen. Sie kickt ihre Schuhe von sich und stürmt barfuß die kalte Steintreppe hinunter, während sie zu Gott betet, der Junge möge da sein, wenn sie um die Ecke biegt und den Strand sieht.

SECHSUNDZWANZIG
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    Beth späht aus dem Küchenfenster, sieht Jimmy und die Mädchen wegfahren und fühlt sich allein zurückgelassen. Es ist Samstag, spätnachmittags, und Jimmy ist vor etwa einer Stunde spontan vorbeigekommen, hat gesagt, er hätte den Abend frei, und hat angeboten, die Mädchen zu einem Ausflug zu Bartlett’s Farm und dann zum Abendessen einzuladen. Anfangs hat sie gezögert, nicht weil sie andere dringende Pläne für sich und die Mädchen hatte, sondern weil sie nicht einbezogen wurde.
    Während ein unangekündigter Besuch von Jimmy sie in den letzten Monaten nervös oder wütend gemacht hätte, hat sie seine Gesellschaft heute durchaus genossen. Er hat sich die Schuhe auf der Fußmatte abgetreten, bevor er ins Haus gekommen ist, er hat die ausgebrannte Glühbirne in der Deckenlampe im Wohnzimmer gewechselt, er hat ihr gesagt, er würde den Schornsteinfeger bestellen, und er hat den Mädchen alle möglichen Fragen über die Schule gestellt. Und er hat Beth viele Fragen über Autismus und das Buch gestellt, das sie schreibt. Jimmy war rücksichtsvoll, nützlich und aufrichtig beteiligt an der Unterhaltung.
    Bevor sie losfuhren, erzählte er Beth stolz, er hätte seine Hausaufgabe für Dr. Campbell bereits gemacht, und er sah mehr als ein wenig geknickt aus, als sie zugab, dass sie mit ihrer noch nicht einmal angefangen hatte. Sie muss diese Aufgabe machen. Sie weiß, dass sie sich bisher davor gedrückt hat. Und sie hat sich auch davor gedrückt, sich zu fragen, warum sie sich davor drückt.
    Sie findet ein Blatt Druckerpapier und setzt sich an den Küchentisch. Sie zeichnet ein Kreuz, unterteilt das Papier in vier Rechtecke und schreibt über jedes Rechteck ein Wort: Gewollt. Glücklich. Sicher. Geliebt . Ihr Blick wird verschwommen, während sie auf die Seite starrt. Sie klopft mit ihrem Stift gegen ihre Zähne und träumt mehrere Minuten mit offenen Augen vor sich hin. Dann reißt sie sich zusammen und wendet sich wieder der Aufgabe zu. Gewollt. Glücklich. Sicher. Geliebt . Leer. Leer. Leer. Leer.
    Sie seufzt, faltet das Blatt Papier zusammen und steckt es ein. Sie wird es ein andermal machen. Später.
    Beth ist froh, dass sich diese Art Schreibblockade auf ihr Privatleben beschränkt und nicht auf ihren Roman übergreift, der noch immer keinen Titel hat. Sie fährt noch immer fast täglich in die Bibliothek, ist jeden Morgen begeistert, dort zu sein. Die Geschichte geht ihr leicht von der Hand, sie ist stolz auf das, was sie bis jetzt geschrieben hat, und sie ist, während sie ihre Kapitel noch einmal liest, fest davon überzeugt, dass es ihr gut gelingt, die Stimme dieses fiktiven Jungen mit Autismus einzufangen.
    Der Stift, den sie noch immer in der Hand hält, und Szenen aus ihrem Roman, die ihr jetzt durch den Kopf schießen, lösen einen fast zwanghaften Drang zu schreiben in ihr aus. Sie wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Durch das Küchenfenster blickt sie auf die Stelle in der Auffahrt, wo vor ein paar Minuten noch Jimmys Truck stand. In einem plötzlichen Anfall von Entschlossenheit steht sie auf, schnappt sich ihre Schlüssel und ihre Tasche und verlässt das Haus. Statt ihre Eheberatungs-Hausaufgabe zu machen oder die Schlafzimmer zu putzen oder für den Rest des Abends auf der Couch vor HGTV vor sich hin

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