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Der Liebe eine Stimme geben

Der Liebe eine Stimme geben

Titel: Der Liebe eine Stimme geben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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»Love Shack«, und die Mutter des Jungen kommt zurück an seinen Tisch, um nach ihm zu sehen. Sie küsst ihn auf den Kopf. Klick. Klick. Klick. Sie geht zurück zur Tanzfläche. Er wippt weiter, die Finger in die Ohren gesteckt.
    Die Band ist laut. Die Leute müssen brüllen, um sich zu unterhalten. Die Stimme des Sängers, verstärkt durch das Mikrofon, der hämmernde Bass, einhundert Leute, die brüllen, um sich Gehör zu verschaffen, das Tanzen, die Lichter, der Geruch des Feuers – das ist alles zu viel. Dieser kleine Junge kämpft gegen eine Reizüberflutung an, tut sein Bestes, um alles auszublenden, wippt, um sich seinen eigenen Reiz zu schaffen, auf den er sich konzentrieren kann, in einem besänftigenden Hin-und-her-Rhythmus, einer Wiege.
    Der Vater kommt an den Tisch und setzt sich zu seinem Jungen. Klick. Klick. Klick. Der Vater leert seinen Drink und bleibt noch für einen Song. Die Mutter kommt an den Tisch zurück, verschwitzt und glücklich. Sie sagt etwas zu dem Jungen. Er wippt hin und her und sieht sie nicht an. Sie nimmt den Vater bei der Hand. Er lächelt. Klick. Klick. Sie gehen zurück zur Tanzfläche.
    Olivia spürt, wie sich ihr Magen verkrampft, und ihr wird bewusst, dass sie den Atem angehalten hat. Sie atmet aus. Sie kennt das. Sie hat es selbst erlebt. Dieser entzückende kleine Junge wird nur noch begrenzte Zeit durchhalten können. Was für alle anderen ein Fest ist, ist für ihn eine Qual. Nichts von alledem bereitet ihm Freude, und Olivia wünscht, seine Eltern hätten ihn mit einer Babysitterin zu Hause gelassen, oder sie würden es für diesen Abend gut sein lassen und früher gehen. Aber sie versteht auch das Bedürfnis der Eltern, ihn einzubeziehen, ihn so hübsch herauszuputzen, wie jeder andere Junge herausgeputzt ist, der zu der Hochzeit eingeladen ist, und ihn mitzubringen, noch einen Song zu riskieren, sich zu amüsieren, als ganze Familie hier zusammen zu sein.
    Sie und David haben irgendwann aufgehört, mit Anthony zu Hochzeiten und Geburtstagen und Feiertagspartys zu gehen, da es leichter und sicherer war, ihn zu Hause zu lassen, anstatt zu riskieren, was in der Öffentlichkeit passieren könnte. Autismus und laute Partys vertragen sich nicht gut, und wenn die Eltern dieses Jungen zu lange bleiben, wird es kein gutes Ende nehmen. Irgendwann wird es ihm nicht mehr genügen, auf seinem Platz zu wippen, mit den Fingern in den Ohren, und sein Nervensystem wird durchdrehen, außer Stande, diesen Wahnsinn noch eine Sekunde länger zu ertragen. Er wird entweder zusammenbrechen oder Reißaus nehmen. Kampf oder Flucht.
    Olivia nimmt an, dass seine Eltern sehr wohl wissen, auf was für ein Spiel sie sich einlassen, und während sie wieder den Atem anhält, voller Sorge um den Jungen, drückt sie ihnen auch die Daumen, hofft, dass sie wenigstens noch einen Tanz als Mann und Frau tanzen können, bevor der Zünder an dieser unsichtbaren Zeitbombe explodiert, bevor ihre ganze Welt von einem schönen Abend auf einer Hochzeitsfeier in eine grauenhafte Fluchtaktion umschlägt. Aber im Moment tanzen sie, offenbar ohne etwas von dem zischelnden Zünder zu ahnen. Olivia sieht auf ihre Armbanduhr, weiß, dass es allmählich spät wird.
    Die Band ändert die Stimmung mit einem langsamen Song. Der Vater des Jungen zieht seine Frau an sich, und sie legt den Kopf an seinen Hals. Die beiden wiegen sich hin und her, drehen sich in einem kleinen Kreis, und obwohl sie umgeben von dem Gedränge auf der Tanzfläche sind, scheinen sie völlig aufeinander konzentriert, auf den einzigartigen Rhythmus, den sie sich zusammen geschaffen haben, als würde niemand außer ihnen existieren. Klick. Klick. Klick.
    Olivia lässt ihre Kamera sinken und beobachtet das Paar ohne die Maske ihres Objektivs zwischen ihnen. Eine Welle von Emotionen schwillt in ihrer Kehle an, und sie schluckt mehrmals, um sie zurückzudrängen.
    David.
    Warum hatten sie das nicht tun können? Warum hatten sie sich nicht aneinander festhalten und die Welt ausblenden können? Warum hatten sie sich nicht mit dem abfinden können, was sie nicht unter Kontrolle hatten? Warum waren sie nicht tapfer genug gewesen, ein Leben zu feiern, zu dem Autismus dazugehörte? Sie wollte es, und sie glaubt, dass sie es letztendlich auch geschafft hat, aber sie hat zu lange dafür gebraucht. Als sie eben bereit war zu tanzen, brach die Musik ab.
    Sie sieht zurück zu dem Tisch des Jungen. Er ist verschwunden. Panik durchflutet mit einem Mal jede ihrer Zellen,

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