Der Liebespakt
Schreibtisch eines der mächtigsten Wirtschaftsführer Europas? Georg würde das selbstverständlich nie zugeben.
Draußen rauschte Berlin vorbei. Sie fuhren jetzt auf der Stadtautobahn. Toni sah hinter der Leitplanke die Gleise der Ringbahn und große Werbebanner für Fliesen- und Kachelmärkte und Autohäuser und viele Wohngebäude und den leuchtend gelben Buchstaben von McDonald’s. Bald begannen die Tunnel, einer nach dem anderen, hier mussten die Autos quälend langsam fahren. Berliner Lärmschutz. Über ihnen war irgendein Wald.
Vielleicht bin ich zu weit gegangen, dachte Toni. Sein Leben total umzudekorieren. Mich als Ehefrau so wichtig zu nehmen. Georg verdiente diesen Posten mehr als jeder andere. Sie wusste, er litt unter der Trennung von seiner Familie. Er gab es nicht zu. Aber er litt. Der Vorstandsposten war seine Chance zur Versöhnung - und sie, Toni, spielte leichtfertig mit dieser Chance. Verspielte sie womöglich. Warum? Weil er sie betrogen hatte. Weil er es sich so unsagbar leicht machte. Und - sie musste es zugeben, und sie schämte sich ein wenig dafür - weil sie tief im Herzen nie wirklich gespürt hatte, dass das Leben ernst werden konnte. Ihr Leben. Es hatte bislang keine Krisen gekannt. Natürlich, man las in Romanen darüber, sah Filme. Aber es blieb unwirklich. Deshalb hatte sich Georgs Familiengeschichte für sie wie eine Episode aus einer Soap Opera angehört: »Das Sägewerk - ein Provinzdrama«. Toni konnte sich im Grunde nicht vorstellen, was es hieß, Entscheidungen zu treffen wie diese: seine Familie zu verlassen, die sich auf einen verlässt. Ein Familienunternehmen zu verlieren. Georgs Leben, Georgs Tragik war ihr immer romanhaft vorgekommen. Sie selbst war in einem Einfamilienhaus in einem grünen Viertel im Ruhrgebiet aufgewachsen, ihr Vater war mittlerer Beamter in der Baubehörde, ihre Mutter arbeitete als Grundschullehrerin. Alles im Leben ihrer Eltern war BAT-gefestigt. Es gab keine nennenswerten Geldprobleme, keine schweren Krankheiten, keine Tragik.
Höchstens der Tod der beiden Großmütter konnte als Beispiel für den Ernst des Lebens herhalten, aber ihn tragisch zu nennen, wäre völlig überzogen gewesen, denn die beiden Damen waren zum Zeitpunkt ihres Todes 81 und 83 Jahre alt gewesen.
Toni wurde milde. Zum ersten Mal seit Tagen gönnte sie Georg den Vorsitz. Draußen war die Stadt verschwunden. Wälder und Äcker wechselten sich jetzt ab. Sie hatten Berlin verlassen. Aber wohin fuhr Georg sie?
Die nächste Ausfahrt schnellte heran. Toni las auf dem Schild »Stolpe«, jetzt wusste sie in etwa, wo sie waren. Sie fuhren nach Norden. Am nächsten Kreuz bog Georg in Richtung Ostsee ab. Toni schaute zu ihm hinüber, aber er sah stoisch nach vorn. Sie fragte nicht. Warum sollte sie fragen? Sie hatte nichts zu verlieren. Und nachdem sie nicht mehr zur Arbeit ging, hatte sie auch Zeit. Aber was war mit Georg los? Toni fiel ein, dass in vier Stunden ein kurzfristiger »Fußpflege«-Termin in seinem Kalender stand. Wollte er seine Verabredung mit der Geliebten sausen lassen?
Fehrbellin, Neuruppin, Herzsprung. Eine neue Autobahn. Neue Ausfahrten. Fuhr man hier ab, kam man in schöne, seenreiche Gegenden. Aber Georg bremste nicht. Er blieb auf der linken Spur, schoss an mehreren Wohnwagen vorbei. Rostock kam immer näher. Im ersten Jahr ihrer Liebe waren sie öfters nach der Arbeit ins Auto gestiegen und hatten ein Wochenende an der Ostsee verbracht. Auf Fischland oder auf dem Darß. Dort gab es wilde, weite Strände, an denen man lange spazieren gehen konnte, um irgendwann mit windzerzaustem Haar und leicht durchgefroren in eine reetgedeckte Kate einzukehren, in der man heiße Schokolade oder heißen Tee zum selbst gebackenen Kuchen serviert bekam. Toni hatte diese simplen Ostsee-Wochenenden später vermisst. Anfangs hatte sie noch mit Georg darüber geredet, später hatte sie das Thema nicht mehr
angeschnitten. Die Wochenenden waren nun vollgepackt mit gesellschaftlichen Einladungen, halb geschäftlichen Kurztrips und berufsbedingten Städtereisen. Für spontane Ostseetage und -nächte blieb kein Raum mehr. Und jetzt? Fuhr er etwa mit ihr auf den Darß? Das wäre unglaublich schön, dachte Toni kurz, aber sie unterdrückte jedes Glücksgefühl. Hatte er etwa zwischen den Birken erkannt, was er an ihr hatte? Toni zwang sich, den Gedanken abzubrechen. Sie musste klar im Kopf bleiben. Ein langer Kuss in der Tiefgarage durfte nicht alles über den Haufen werfen. Nur nicht
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