Der Liebeswunsch
ertönt eine schwerverständliche Lautsprecherdurchsage. Die Band, sagt der Sprecher,
will aus Freude über das schöne Wetter ihr Konzert mit einem passenden Oldie beginnen. Er singt mit parodierter Heiterkeit
den Anfang des Textes ins Mikro: »In the summertime when the weather is fine.« Danach werden die angekündigten spanischen
Liebeslieder kommen. »Also, ab geht die Post«, sagt er, dreht sich um und schlägt auf der Stelle wippend mit dem Zeigefinger
den Takt, weist dann auf den Schlagzeuger, der mit einem einfachen, trockenen Trommelschlag den Rhythmus übernimmt, und nach
weiteren sieben Takten setzt die Band mit einem Tutti ein.
Nebenan im Wohnzimmer klingelt das Telefon und schreckt sie aus dumpfer Betäubung auf. Sie hat der Musik im Park gelauscht
und ist darüber eingeschlafen. Vielleicht – es ist ihr, als habe sie es im Halbschlaf gehört – klingelt das Telefon schon
seit einiger Zeit. Wer kann das sein? Leonhard, Marlene, ihre Mutter? Oder vielleicht auch Paul? Mehrere Tage, bevor sie aus
der Pension hierhergezogen ist, hat sie allen ihre neue Adresse und Telefonnummer mitgeteilt. Keiner hat angerufen. Auch Paul
nicht, dem sie einige Worte geschrieben hat, schnell hingeschriebene, beschwörende Worte: »Bitte vergiß unseren Streit! Ich
bin jetzt hier allein und bin endlich frei. Und ich weiß nichts anderes zu tun, als auf Dich zu warten! Bitte melde Dich bald!«
Er hat sie nicht angerufen, bisher nicht. Vielleicht jetzt? Ihr Herz klopft heftig. Und einen Augenblick zögert sie, bevor
sie den Hörer abhebt.
Eine aufgeregte, fordernde Frauenstimme will Sebastian sprechen. Sebastian! Sie spricht den Namen wie eine Paroleaus. Wo steckt Sebastian, wo versteckt er sich? Und wer ist sie? »Sebastian Weber?« fragt sie. Ja, das ist der Name ihres
Vormieters. Er ist vorige Woche ausgezogen. Nun wohne sie hier. – Die Frau will ihr das nicht glauben, weil sie offenbar aus
langer, schlechter Erfahrung spricht. Für sie ist das Ganze ein Rückzugsmanöver, ein Wortbruch, eine Flucht. Der Mann hat
ihr Vertrauen mißbraucht. Sie hat ihm eine große Geldsumme geliehen. Jetzt ist er weg. Vielleicht heißt er gar nicht Sebastian
Weber? Noch einmal muß sie der Frau alles erklären: daß sie den Vormieter nicht gekannt habe und nur seine plötzlich frei
gewordene Wohnung bekommen habe. Vielleicht wisse der Hausmeister mehr. Die aufgeregte Frau scheint immer noch an ein Komplott
zu glauben. Schließlich aber murmelt sie eine Entschuldigung und legt auf.
Was jetzt? Sie blickt sich um, als könne sie im Raum wieder einen Anschluß an ihr eigenes Leben finden. Wie ein Windstoß ist
das Gespräch durch ihren Kopf gefahren und hat als seinen mehrfach zurückgeworfenen Widerhall ein leeres Gezeter in ihr zurückgelassen.
Um sie herum stehen die Kisten, in denen ihr vergangenes Leben verpackt ist. Die meisten sind so schwer, daß sie sie nicht
von der Stelle rücken kann. Warum und wohin ist der fremde Mann so plötzlich geflohen? Und was macht sie nun hier? Was macht
Paul? Hat er beschlossen, zur Rettung seiner Ehe über alles, was zwischen ihnen gewesen ist, hinwegzugehen? Er muß doch ihre
Nachricht längst bekommen haben. Warum schweigt er? Warum kommt er nicht, um mit ihr zu reden? Immer noch hört sie die aufgeregte
fremde Stimme: »Sebastian! Sebastian! Ich will sofort Sebastian sprechen.« Sie hätte längst auflegen sollen. Aber sie konnte
sich nicht wehren gegen die wütende Verzweiflung dieser Stimme. Um sie herum gab es keinen Halt, keinen Anhaltspunkt für Unterscheidungen.
Alles war zurückgewichen, und einen Augenblick lang waren sie verschmolzen in einem ungewollten, peinvollen Klageschrei: »Sebastian!
Paul!« Gleich danach hat sie es abgeschüttelt. Nein, sie weiß die Adresse nicht. Vielleicht kann der Hausmeister Auskunft
geben. Sie hat nichts damit zu tun. Nun allerdings, nach einer kurzen Stille, in der sie sich abhanden gekommen war, taucht
alles wieder auf. Sie ist hier allein. Vergessen. Totgeschwiegen. Verurteilt, weiterzumachen oder aufzuhören mit allem. Auf
zuhören, damit es aufhört, diese Lähmung, das langsame Erstarren. Sie schaut in den Spiegel, aus dem ein blasses, gedunsenes
Gesicht, umgeben von verschwitzten, strähnigen Haaren, ihr entgegenblickt. Wie häßlich sie geworden ist in wenigen Tagen.
Ist alles so taub, wie sie sich fühlt? Mit den Fingerspitzen betastet sie ihre Backenknochen und die Mundwinkel,
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