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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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versuchen, sich innerlich abzuwenden und davonzustehlen
     aus allem, was sie hier umgibt. Manchmal, doch längst nicht immer, wenn sie es braucht, gelingt es ihr. Sie stellt sich vor, daß es ein geheimes Fenster in der
     Zeit gibt, das sie mit der Kraft ihres Wunsches öffnen kann. Und dort, weit weg, sieht sie sich – ein kleines Mädchen auf
     den Armen ihres Vaters, der mit ihr vor aller Augen tanzt. Denn sie sind auf einem Fest. Sie sind der Mittelpunkt dieses Festes.
     Alle anderen Paare sind stehengeblieben und schauen ihnen zu. Nein, eigentlich sieht sie es nicht, sie denkt es nur. Es ist
     nur eine ausgedachte Geschichte, die immer blasser wird, wie ausgebleicht von dem Sonnenlicht, das durch den Vorhang dringt
     und ihre Augenlider empfindlich zucken läßt. Wenn sie die Augen einen Spalt weit öffnet, sieht sie dicht vor sich die aufgestapelten
     Transportkisten, die vorgestern gekommen sind. Die Arbeiter der Spedition, Männer in blauen Overalls mit aufgenähtem gelbem
     Firmennamen auf der Brust, haben die Kisten auf einem Rollgestell nacheinander in ihre Wohnung gefahren und überall, wo noch
     freier Platz war, aufgestellt. Sie haben sich den Lieferschein unterschreiben lassen und wollten wissen, wann sie die leeren
     Kisten wieder abholen sollten. Das hatte sie nicht beantworten können. Sie hatte sich überrumpelt gefühlt wie durch einen
     Überfall. Noch keine einzige Kiste hat sie geöffnet. Wozu? Sie hat keinen Platz für die Sachen, und sie weiß nicht, ob sie
     irgendeine Zukunft hat.
     
    Es ist das letzte Wochenende vor dem Ende der Schulferien. Der Rückreiseverkehr hat eingesetzt. Noch gibt es freie Parkplätze
     in den Straßen der Wohnviertel. Die Busparkplätze an der Rheinuferstraße sind wieder mit Reisebussen aus dem In- und Ausland
     besetzt. Ausflügler aus dem näheren Umland und weitgereiste Reisegruppen stauen sich an den Anlegestellen der Ausflugsboote. Unter den Sonnenschirmen der Altstadtrestaurants werden die hin und her eilenden Bedienungen
     von Wartenden behindert, die zwischen den Tischen nach frei werdenden Plätzen Ausschau halten. Träge Menschenströme, gebremst
     durch ihre Dichte und Masse, schieben sich durch die Geschäftsstraßen der Innenstadt, beidseitig flankiert von Schaufensterpuppen
     in dramatischen Posen, die zu Schleuderpreisen die auslaufende Sommermode präsentieren. Gleich hinter dem Eingang steht der
     Kaufhausdetektiv, erkennbar an seinem seriösen Anzug und seinem schläfrigen Ernst. Ein Ladendieb schlüpft gerade an ihm vorbei.
     Ein Sektenprediger, dem niemand zuhört, ruft zu Umkehr und Einkehr auf, während nicht weit von ihm entfernt ein kalkweiß geschminkter
     Pantomime in einem silbernen Gewand langsame fließende Bewegungen vollführt, als schwebe er in einem schwerelosen Raum.
    Alles scheint ständig zu stocken, alles geht weiter. »Gottes Zorn ist nah!« ruft der Prediger. »Aber seine Gnade ist unendlich!«
     Ein vorbeikommender junger Mann sagt zu seiner Begleiterin: »Such dir was aus.« Immer mehr Menschen! Was wollen sie? Menschen
     suchen das Menschengedränge, das Gewühl des Lebens. Es ist Mittagszeit. In den Parks und am Ring, wo vor allem Jugendliche
     flanieren, sind die zinkgrauen Abfallbehälter mit Plastikbechern, Cola-Flaschen, platt gedrückten Getränkedosen, mit Ketchup
     beschmierten Papptellern und Pommes frites überfüllt. Bei einigen Behältern ist die Bodenklappe mit Gewalt geöffnet worden,
     und der ganze Fast-food-Müll liegt auf dem Boden herum. Hochbetrieb in den Freibädern und an den Stränden der Badeseen. Am
     Fühlinger See findet eine Ruderregatta statt, am Otto-Maigler-See ein Beachball-Wettbewerb. Überall liegenim Schatten der Bäume eng umschlungene Liebespaare. Über der Szene schwebt ein silbergraues Luftschiff mit der Aufschrift
     »Fuji Film«.
     
    Sie hat sich notdürftig angezogen, um nach der Post zu sehen. Im Kasten steckten nur die Zeitung und einige Postwurfsendungen.
     Sie hat alles mit nach oben genommen und in der Zeitung blätternd etwas gegessen und Wasser getrunken. Danach hat sie sich
     wieder hingelegt. Das ist inzwischen ihr Rhythmus: Nachts bleibt sie lange auf und schläft erst gegen Morgen ein. Den Vormittag,
     manchmal den ganzen Tag, verbringt sie im Bett. Was soll sie auch sonst tun zwischen den Transportkisten, die Leonhard ihr
     geschickt hat, ohne zu fragen, ob sie Platz für die Sachen hat und ob sie sie überhaupt haben will. Laut der beigefügten Liste
     hat er nicht

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