Der Liebeswunsch
Ziel mehrfach anvisierte, und als würde ein Schleier von seinen Augen weggerissen, erkannte er in plötzlicher
Klarheit die Sinnlosigkeit des Daseins. Alles, was geschah, war wie der gestreckte Arm und die fliegende Kugel, und ohne Leidenschaften
gab es nur die Leere. Der Gedanke beruhigte ihn und zerrann wieder. Schon das Aussteigen aus dem Auto und das Abschließen
der Wagentür hatten ihn verwischt. Gut, er wollte jetzt in den Biergarten gehen.
Paul hatte eben im Biergarten am Kollegentisch Platz genommen, als Anja, die eine Weile dem Parkkonzert gelauscht hatte und
dann ziellos weitergegangen war, plötzlich auf sein geparktes Auto stieß. Das war doch Pauls schwarzer Saab mit den hellen Ledersitzen, sein geliebtes Auto, in
dem sie schon oft gesessen hatte. Sogar die Nummer erkannte sie. Es gab keinen Zweifel: das war Pauls Wagen. Also mußte er
in der Nähe sein. Was sollte sie tun? Hier warten, bis er zurückkam? Vermutlich war er zu dem Apartmenthaus gegangen, um sie
zu besuchen. Dann würde er bald von dort zurückkommen, und sie konnte ihm entgegengehen. Oder er war noch irgendwo eingekehrt,
um etwas zu trinken, und hatte ihr eine Nachricht hinterlassen, wo er zu finden sei.
Paul war im Biergarten freundlich empfangen worden, und die übliche Frage, wo er Marlene gelassen habe, hatte er lässig mit
der Bemerkung beantwortet, daß er heute Freigang habe, weil Marlene verreist sei. Er hatte schräg gegenüber von Sibylle Platz
gefunden und lächelte ihr zu, winkte dann die blaubeschürzte Bedienung herbei und bestellte ein Wieß. Wie er sah, tranken
am Tisch alle Wieß, ein naturtrübes Bier nach alter Brauart, das als besonders gesund galt und nur im Restaurant und im Garten
der Brauerei ausgeschenkt wurde. Als er sein Glas bekommen hatte, hob er es zuerst Sibylle entgegen: »Freue mich, dich zu
sehen.« Dann stieß er mit seinem Nachbarn an: »Auf das warme Wetter und das kühle Bier!« Er tat einen tiefen Zug. Das war
nicht bloß Durst, sondern ein Verlangen, sich in seinem Dasein bestätigt zu fühlen, alles in allem. Aufseufzend stellte er
das halb geleerte Glas auf den Tisch zurück.
Wieder suchte er Sibylles Blick. »Wie geht’s dir?« fragte er.
»Gut, aber es kann immer noch besser werden.«
»Das hört sich gut an«, sagte er. »Ein Gefühl von Zukunft.« »Ist ja wirklich schön hier heute«, fügte er hinzu.
»Finde ich auch.«
Sie lächelten sich an, als hätten sie einen ganz anderen Dialog geführt.
Nein, Paul war nicht im Haus gesehen worden, hatte auch keine Nachricht hinterlassen. Möglicherweise war er jetzt im Park
oder in dem kleinen Café, das dem Parkeingang gegenüberlag. Bevor sie ihn da und anderswo suchte, mußte sie sich erst überzeugen,
daß sein Auto noch da war. Sie hoffte zwar noch immer, er suche nach ihr, wie sie nach ihm suchte, aber sie hatte Angst, er
könne es schnell aufgeben und nach Hause fahren. Nein, sie durfte ihn nicht verpassen. Atemlos lief sie zum Parkplatz zurück.
Der Saab stand noch da. Also war er noch in der Nähe.
Im Biergarten waren inzwischen alle Tische besetzt, grüne Holztische und grüne Klappstühle auf weißem Kies unter großen, hellen
Sonnenschirmen und dem leuchtenden Laub der jungen Linden. Am Rand des Plattenweges, der das Areal in zwei Hälften teilte,
stand ein mächtiger alter Maischebottich wie ein bronzefarbener Turmhelm mitten in einem runden Wasserbecken, in dem zwei
Kinder ein Papierschiffchen schwimmen ließen. Paul schaute beiläufig da hinüber, weil Sibylle von dem neben ihr sitzenden
Kollegen ins Gespräch gezogen worden war. Seitlich, verdeckt von dem Maischebottich, war das Tor zur Straße. Leute kamen und
gingen. Bedienungen, die vom Ausschank kamen, eilten mit runden Tragen voller frischgezapfter Biergläser vorbei. Eins der
Kinder beugte sich über die kleine Mauer des Wasserbeckens, um dasabgedriftete Papierschiff zu greifen, und da sah er, noch im Hintergrund der Szenerie, Anja, die von der Straße hereingekommen
war und sich umblickte, offenbar, weil sie ihn suchte. Sie sah verstört aus, mit strähnigen Haaren und nachlässig oder schlampig
angezogen, und er hoffte, sie würde gleich wieder gehen, ohne ihn entdeckt zu haben. Vielleicht konnte er sich vor ihr verbergen,
indem er sich wegdrehte und mit seinem Nachbarn sprach, doch dann konnte er nicht verhindern, daß sie an den Tisch kam. Noch
stand sie unbeweglich auf einem Fleck und
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