Der Liebeswunsch
das Feste,
das Weiche. Bin ich das? Wieder beginnt das Wehen und Sausen der Angst. Ich muß hier raus, sonst werde ich verrückt!
Wie Paul es erwartet hatte, waren in der Stichstraße zwischen dem Römerpark und dem Gebäude der alten Universität noch einige
Parkplätze frei. Er lenkte den Wagen in eine Lücke, von der aus er in die Achse des Parks blicken konnte, in dem wegen des
prachtvollen Sommerwetters viel Leben war. Im Vordergrund, unter den Platanen, deren Äste früher einmal in die Breite gezogen
worden, dann aber wieder in die Höhe geschossen waren und inzwischen annähernd ihre normale Höhe erreicht hatten, spielte
eine Gruppe von Männern Boccia. Weiter weg, neben dem Mittelweg, hatten sich viele Menschen um eine Band versammelt, die anscheinend ein spanisches Lied spielte, wenn er den verwehten
Text der Sängerin, den er nur in Bruchstücken hörte, richtig verstand. Er hatte das Seitenfenster heruntergefahren und seinen
nackten, schwarz behaarten Unterarm auf den Türrahmen gelegt – eine lässig protzende Haltung, die er instinktiv eingenommen
hatte, um sich gegen alles zu behaupten, was ihn in Frage stellte. Noch immer, wenn er unsicher oder irritiert war, hatte
er in seinem Körper einen Rückhalt gefunden, der ihn stärkte. Dazu mußte er aber allein oder unter fremden Menschen sein.
Mit einem Seitenblick schaute er, wie spät es war, indem er sein Handgelenk ein wenig drehte. Er hatte noch viel Zeit, um
sich darüber klarzuwerden, was er tun wollte.
Eigentlich hatte er zusammen mit Marlene zu dem abendlichen Treffen der Ärzteclique gehen wollen, das diesmal in dem großen
Biergarten an der Schönhauser Straße stattfand. Es wäre richtig gewesen, wieder einmal zu zweit im Kollegenkreis aufzutreten,
nicht weil es schon nötig gewesen wäre, den immer möglichen, schnell in Umlauf kommenden Gerüchten über ihre vermutliche Entfremdung
vorzubeugen, sondern vor allem, um sich selbst davon zu überzeugen, daß sie in den Augen ihrer Freunde und Kollegen noch immer
ein gestandenes, gut verständigtes Paar waren, an dem man nicht zweifeln konnte. Man hatte keinen festen Anspruch darauf,
so gesehen zu werden, sondern mußte das Bild in gewissen Abständen erneuern, indem man sich ab und zu gemeinsam in der Gesellschaft
zeigte. Früher einmal waren sie in solchen Auftritten perfekt gewesen, vor allem Marlene, der er die Kunst der Selbstdarstellung
abgeschaut hatte, die darin bestand, nicht als Kunst zuerscheinen, sondern als entwaffnende, formvollendete Natürlichkeit oder auch als natürliche Eleganz.
Ja, es war ein zur Natur gewordener Stil, der ihm als ein besonderes, ausgeprägtes Verhalten meistens erst nachträglich deutlich
geworden war, wenn sie von einer Einladung nach Hause kamen und Marlene sich in einen Sessel fallen ließ und die Füße hochlegte,
gähnte oder, damals noch, eine Zigarette rauchte und ihn bat, ihr ein Glas Mineralwasser oder ein Glas Rotwein zu bringen.
In diesen Momenten, wenn sie sich gehenließ, weil die Kraft ihrer Ausstrahlung, die sie in Gesellschaften zu einer dominierenden
Person machte, vorübergehend erschöpft war, hatte er sich immer bevorzugt gefühlt. Es war sein Privileg, daß er beide Seiten
ihres Wesens erleben konnte, denn nur in der Spannung dieses Gegensatzes konnte man erkennen, was für ein Mensch sie war.
Er glaubte inzwischen auch zu wissen, daß er seine Anziehung auf Frauen wie Sibylle oder Anja nicht nur sich selbst verdankte,
sondern auch der Tatsache, daß er Marlenes Mann war. Bei Sibylle hielt sich das in den Grenzen üblicher weiblicher Konkurrenz.
Bei Anja war das jahrelang verdeckt geblieben, dadurch daß sie Leonhard geheiratet hatte. War es aber ganz falsch zu vermuten,
daß es ihr dabei vor allem darum gegangen war, in Marlenes und seiner Nähe zu bleiben? Er traute ihr das zu. Nicht als bewußten,
intriganten Plan, aber als einen lange verleugneten Wunsch, dem sie wie eine Schlafwandlerin gefolgt war, bevor sie ihn sich
eingestand. Der mächtige Sog, der von ihr ausging, war eigentlich gar nicht anders zu erklären als durch ein über Jahre oder
vielleicht lebenslang gewachsenes Begehren, einen Mann zu finden, der alles, was er hatte und war, für sie aufgab, aucheine Frau wie Marlene, gegen deren bewunderte Überlegenheit in allen Belangen des Lebens sie nichts auszurichten vermochte,
außer in diesem einen empfindlichen Punkt, daß sie ihr den Mann wegnahm.
War es
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