Der Liebeswunsch
nur Bücher, Akten, Schreibmaschine, Bettwäsche und Garderobe eingepackt, sondern auch Blumenvasen, Bilder, alles,
was ihn an sie erinnerte. Alle Spuren ihres gemeinsamen Lebens hat er getilgt. Nun gut, sie will sich nicht darum kümmern.
Sie hat sich mit der Vorstellung vertraut gemacht, zwischen den Kisten zu leben wie in den Gängen eines höhlenhaften Verstecks.
Leonhard wird sein Pfandgeld vorläufig nicht zurückbekommen.
Zum Schutz gegen das Licht hat sie sich einen nassen Lappen auf das Gesicht gelegt, der schon wieder warm geworden ist. Aber
sie kann sich nicht aufraffen aufzustehen, um ihn wieder naß zu machen. Im Halbschlaf hört sie mal nah, mal fern die Martinshörner
der Rettungswagen und der Polizei. Seit Beginn der Hitzewelle häufen sich die Kreislaufzusammenbrüche und Infarkte, auch Unglücksfälle
und Gewalttaten. Sie hat in der Zeitung die Berichte gelesen. Eine schwerhörige alte Frau ist unter eine Straßenbahn geraten. Ein Radfahrer ist die Uferböschung des Rheins hinabgestürzt und unten
auf den Steinen mit Becken- und Schädelbruch liegengeblieben. Zwei Jugendliche sind in einer Kiesgrube ertrunken. Ein eifersüchtiger
Mann hat seine ganze Familie ausgelöscht. Bis vor kurzem hat sie solche Schreckensberichte vermieden. Jetzt liest sie fast
nichts anderes mehr. Das fremde Unglück macht sie ruhig. Obwohl die Berichte mattgraue Bilder in ihr auslösen, fühlt sie sich
selbst, solange sie liest, unsichtbar und unangreifbar, als lebe sie außerhalb der Welt der täglichen Ereignisse.
Sie hat eine Hand zwischen die Beine gelegt und streichelt sich, als sei sie eine Fremde. Die Fremde, die es tut, und eine
Fremde, die es hinnimmt, obwohl es ihr kaum Lust verschafft. Sie kann es aber tun und an etwas anderes denken: Florida. Die
schönen Strandhäuser in Summer Haven. Die fliegenden Pelikane. Die Fahrt im Glasbodenboot durch den Mangrovenwald von Silver
Springs. Paul, der sanft ihren Arm faßt, um ihr beim Einsteigen in das Boot zu helfen, was gar nicht nötig ist. Aber er suchte
immer Gelegenheiten, sie zu berühren, auch wenn Marlene und Leonhard in der Nähe waren. Noch waren sie geschützt durch die
Annahme, alles sei nur ein harmloser Flirt.
Wie spät mag es sein? Ihre Armbanduhr muß noch auf der Ablage vom Waschtisch liegen. Es ist jedenfalls Nachmittag. Aus dem
nahe gelegenen Römerpark dringen ein paar Takte Musik herüber. Das ist die Band, die heute dort ein Konzert gibt. In den Schaufenstern
mehrerer Geschäfte hat sie Zettel mit der Ankündigung gesehen. Jetzt ist es wieder still. Gegen Abend wird sie in den Park
gehen. Einerseits scheut sie die vielen Menschen, die dort auf dem Rasen lagern, grillen, mit ihren Kindern Ball spielen und ihre Hunde ausführen, andererseits weiß sie, daß sie hier fremd ist und
niemand sie beachten wird. Nein, sie hört nichts mehr. Vielleicht hat sie sich getäuscht. Irgendwo hat jemand sein Fenster
geöffnet, einen Schwall von Musik herausgelassen und das Fenster gleich wieder geschlossen.
Die sieben Musiker der Bnd sind inzwischen eingetroffen und haben auf der Wiese neben dem Mittelweg des Parks ihre Instrumente
ausgepackt. Die beiden Gitarristen spielen einige Takte. Die anderen reden miteinander, verständigen sich vielleicht noch
einmal über das Programm. Vor ihnen auf dem Rasen lagert ein Publikum aus jungen Leuten oder steht in kleinen Gruppen herum.
Auf der anderen Seite des Mittelweges, wo die große Platane, der mächtigste Baum des Parks, steht, haben Familienclans oder
Freundesgruppen Kühltaschen mit Getränken, Grillgeräte und zum Teil auch Klapptische und Klappstühle herbeigeschleppt. Grauer
Rauch kräuselt sich über den eng mit Würsten und großen Fleischstücken belegten Rosten, und ein würziger Holz- und Fleischgeruch
durchzieht den Park. Kleine Kinder laufen auf tapsigen Beinen vom Lagerplatz weg, fallen hin und werden von ihren Müttern
oder einer älteren Schwester zurückgeholt. Etwas abseits spielt ein junges Paar Federball. Sie zählen die Schläge, mit denen
sie den Ball einander zuspielen und in der Luft halten, denn so viele Jahre werden sie zusammenbleiben. Einundzwanzig … zweiundzwanzig
… dreiundzwanzig … vierundzwanzig … fünfund … »He, den hättest du kriegen müssen!« »Du hast ihn viel zu kurz zurückgeschlagen.«
»Und du bist einfach stehengeblieben. Hast dich kein bißchen angestrengt.«
Auf der anderen Seite des Mittelweges
Weitere Kostenlose Bücher