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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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so? Oder bildete er sich das ein? War vielleicht alles von selbst so gelaufen und hatte allmählich diese zerstörerische
     Bedeutung bekommen? Er hatte geglaubt, alles kontrollieren zu können, aber sie hatte ihn immer tiefer hineingezogen, und er
     hatte in ihren Armen angefangen, Leidenschaft als Selbstpreisgabe zu verstehen.
    Vorhin war er an dem Apartmenthaus vorbeigefahren, in dem sie jetzt lebte. Es war ein fünfstöckiger grauer Kasten mit kleinen
     Balkonen an der Vorderfront, die wie herausgezogene Schubladen aussahen. Er war versucht gewesen, anzuhalten und hineinzugehen,
     um nach ihr zu fragen, war aber auf der Suche nach einem Parkplatz weitergefahren, und nun stand er hier, kaum mehr als zweihundert
     Meter vom Eingang des Hauses entfernt. Er stellte sich vor, daß sie dort auf ihn wartete, und möglicherweise war sie inzwischen
     in einem schlimmen Zustand. Doch sobald sie miteinander allein waren, würde ihn nichts davor schützen, daß alle Dämme brachen
     und alles wieder von vorne begann. Sie hatte ihm mit der neuen Adresse einige Worte geschrieben, die er schon so oft gelesen
     hatte, daß er sie immer wieder wie ein nahes Geflüster ihrer Stimme hörte: Bitte vergiß unseren Streit! Ich bin jetzt hier
     allein und frei, und ich weiß nichts anderes zu tun, als auf dich zu warten. Bitte melde dich bald! – Er hatte ihr darauf
     geantwortet, daß er selbstverständlich bereit sei, ihr zu helfen, wenn sie irgendwelche Hilfe brauche. Darunter hatte er zu
     seiner Sicherheit den Satz geschrieben: Gehe aber bitte nicht davon aus, daß mituns alles wieder von vorne beginnt. – Doch das war es, wovon er ausgehen mußte. Den Brief hatte er nicht abgeschickt. Er steckte
     immer noch in seiner Jackentasche. Vielleicht sollte er noch darunter schreiben: Ich habe weiter darüber nachgedacht, sehe
     aber keinen anderen Weg. – Auch dazu stand er nicht. Er wußte nicht, wozu er stand.
    Daß er so anfällig war, ausgeliefert seinen Erinnerungen, hing auch mit Marlene zusammen, die ihn täglich fühlen ließ, daß
     sie zu ihm auf Distanz gegangen war. Eine stumme tiefgreifende Veränderung war an die Stelle der Auseinandersetzung getreten,
     die gleich zu Anfang steckengeblieben war und sich dann nur noch verdeckt in Form von einzelnen Bemerkungen und schroffen
     Reaktionen fortgesetzt hatte. Und vor allem in Phasen langen Schweigens. Marlene erzählte ihm kaum noch etwas, wenn sie aus
     dem Dienst kam. Und bei den gemeinsamen Mahlzeiten hielten sie nur mühsam ein formelhaftes Gespräch in Gang. Er konnte es
     nicht ändern, weil sie alles, was er sagte, nur mit kurzen Antworten quittierte und nichts Eigenes hinzufügte. Als er ihr
     heute vorgeschlagen hatte, zum Kollegentreff im Biergarten an der Schönhauser Straße zu gehen, hatte sie ihn mit der Mitteilung
     überrascht, daß sie für drei Tage in den Westerwald in das Ferienhaus ihrer alten Freundin fahre. In den vergangenen Jahren
     waren sie oft zu zweit dort gewesen. Daran schien sie diesmal nicht gedacht zu haben, obwohl die Rückkehr an einen Ort schöner
     gemeinsamer Erinnerungen sie vielleicht wieder einander nähergebracht hätte. So wie sie es ihm sagte, mußte er davon ausgehen,
     daß sie allein sein wollte. Also hatte er sich darauf beschränkt, ihr einige schöne Tage zu wünschen, als sie vor einer Stunde
     mit einer Kühltasche voller Vorräte und einem kleinen Koffer losgefahren war. Es war ein kurzer Abschied gewesen ohne Zärtlichkeit und ohne Begründung, was ihm das Gefühl gab, sie sei nur
     weggefahren, um ihn eine Zeitlang nicht zu sehen.
    Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt. Was er tun würde, wenn sie tagelang wegblieb, schien ihr inzwischen egal zu sein. Nun
     gut, sie hatte ihm einen Freibrief ausgestellt. Das respektierte man am besten, indem man davon Gebrauch machte. Nun gut,
     nun gut, die Dinge schoben sich zurecht. Er konnte jetzt tun, was er wollte. Vielleicht würde er Sibylle im Biergarten treffen.
     Das war immerhin eine erfreuliche Aussicht. Um Anja konnte er sich auch später kümmern, auch noch morgen oder übermorgen.
     Es war auf einmal nicht mehr so dringlich, seit er das Gefühl hatte, daß er für Marlene nicht mehr vorhanden war.
    Eine Stimmung seichter Fadheit erfaßte ihn. Ohne Interesse sah er eine Weile den Bocciaspielern zu, die darin wetteiferten,
     große silberne Kugeln in die Nähe einer kleinen weißen Kugel zu werfen. Er sah den beschwörend ausgestreckten Wurfarm, mit
     dem ein Spieler das

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