Der Liebeswunsch
suchte die entfernteren Tische ab. Aber Leute, die an ihr vorbeigingen, hatten wohl
etwas zu ihr gesagt oder waren ihr aufgefallen, denn sie blickte kurz hinter ihnen her und schaute dann wieder in eine andere
Richtung. Und dabei erkannte sie ihn. Er sah, wie sie stockte. Wahrscheinlich, weil sie gesehen hatte, daß er in Gesellschaft
war. Und für den Bruchteil einer Sekunde zuckte in seinem Arm der Impuls, ihr ein Zeichen zu geben, sie solle bleiben, wo
sie war, oder am besten noch weiter weg in den Hintergrund gehen. Er würde dann eine Gelegenheit suchen, um mit ihr zu sprechen.
Doch da kam sie schon über den Plattenweg, und er stand sofort auf, um sie abzufangen, bevor sie an den Tisch trat. Hinter
sich spürte er die Blicke seiner Kollegen und auch Sibylles Blick. Allen war sein ruckartiges Aufstehen aufgefallen. Trotz
seiner Eile war er nur drei Schritte vom Tisch weggekommen, bevor er auf Anja traf. Sie sah verwahrlost aus, krank und abgemagert,
ein Eindruck, der verstärkt wurde, weil sie ein viel zu weites und verflecktes T-Shirt trug, das faltig über ihre Hüften herabhing.
Darunter schien sich ein ärmlicher Körper zu verbergen. So hatte er sie noch nie gesehen.
»Wo kommst du her, Anja?« fragte er.
»Du weißt doch, wo ich jetzt wohne. Ich habe dir dochmeine Adresse geschickt. Aber du hast dich ja nicht blicken lassen. Warum hast du mir nicht geantwortet? Warum?«
»Ich hätte dir schon noch geschrieben. Wir können das jetzt hier nicht besprechen. Du siehst doch, daß ich in Gesellschaft
bin.«
»Sicher seh ich das.«
Sie blickte an ihm vorbei zu dem Tisch hinüber, wo das Gespräch verstummt war, weil alle neugierig auf diese unerwartete Szene
waren: Er, Marlenes Mann und der von ihnen allen anerkannte und geschätzte Kollege, wurde von einer verwirrten und heruntergekommenen
jungen Frau zur Rede gestellt. Das bekam man nicht alle Tage geboten.
»Hör mal, Anja. Wir reden ein anderes Mal. Es ist jetzt nicht die Gelegenheit …«
»Willst du mir sagen, daß ich verschwinden soll?«
»Ich habe gesagt, was ich gesagt habe: Es ist jetzt nicht die Gelegenheit, über persönliche Probleme zu reden. Begreif das
bitte.«
»Was sind das denn für lebenswichtige Leute, mit denen du so unbedingt zusammensein willst?« sagte sie herausfordernd und
so laut, daß alle es hören konnten.
»Nimm dich zusammen«, sagte er, »und spiel dich nicht so auf. Mich kannst du damit nicht beeindrucken.«
»Ich weiß nur zu gut, was dich beeindruckt«, sagte sie und stieß ein kurzes verzerrtes Lachen aus, und spätestens jetzt wurden
auch die Gäste an anderen Tischen auf die Szene aufmerksam, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis jemand kam und sie
aufforderte, den Biergarten zu verlassen. Das würde verheerend für seinen Ruf sein. Dem mußte er unbedingt zuvorkommen.
»Schluß jetzt!« sagte er. »Du gehst jetzt!«
Dabei faßte er derb ihren Oberarm und versuchte, sie umzudrehen und zum Tor zu führen. Aber sie sträubte sich und riß sich
los, und als ob sie von Sinnen wäre, schrie sie ihn an: »Soll ich mich umbringen, damit du mich los bist!?«
Ratlos und gelähmt von innerer Kälte zuckte er die Achseln. Da schlug sie ihm ins Gesicht, wonach sie ihn mit einem Ausdruck
des Entsetzens sekundenlang anschaute, bevor sie sich umdrehte und weglief durch ein Spalier starrender Leute an allen Tischen,
die ihren Weg säumten. Der junge Mann, der an ihrem Tisch bediente und gerade frisches Bier brachte, trat zur Seite und ließ
sie vorbei. Sie stolperte einmal, aber sie fing sich. Und dann war sie weg.
Paul kehrte an den Tisch zurück, brennend vor Scham und Wut, empfangen von verlegenen Gesichtern.
»Eine Verflossene?« fragte einer.
»Total verflossen«, sagte er. »Absolut.«
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15
In der Klausur
Was suchte sie? Abstand und Ruhe, um über ihr weiteres Leben nachzudenken und zu einem Entschluß zu kommen, oder nur eine
vorübergehende Zuflucht an einem vertrauten Ort, wo sie früher immer glücklich gewesen war? Marlene wußte es nicht genau.
Jedenfalls wollte sie ohne Paul in das Greifensteiner Haus fahren, in dem sie bisher immer zu zweit gewesen waren.
Das Haus gehörte ihrer Hamburger Freundin Ruth, mit der sie mehrere Jahre im Internat zusammengewesen war. Ruth stammte aus
der Gegend und hatte das Haus von ihren Eltern geerbt, fuhr aber, seit sie in Hamburg lebte, höchstens einmal im Jahr dorthin.
Statt dessen stellte sie das Haus
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