Der Liebeswunsch
Gebäude war. Das Dorf lag unsichtbar zwischen dem Hanggrundstück des Ferienhauses und dem Hügel, der
die Burgtürme wie eine phantastische Erscheinung vor dem verschwimmenden, blaudunstigen Hintergrund des östlichen Westerwaldes
ins Licht hob. Jeden Morgen, wenn sie auf die Terrasse trat, um den Frühstückstisch zu decken, hatte sie sich über den Anblick
gefreut. Am Tisch hatte sie den Platz mit der besseren Perspektive für sich reserviert. Paul hatte keinen Einspruch dagegen
erhoben. Er kam morgens schwerer in Gang als sie und wandte sich zunächst einmal dem Frühstück zu. Mehr als einige Worte über
die schöne Aussicht hatten sie nie gewechselt. Denn auch sie nahm die Szenerie, die sich ihnen jeden Tag in einer etwas anderen
Beleuchtung bot, nur stimmungshaft in sich auf. Sie fühlte sich mit ihrem Leben und ihrer Ehe in Einklang, ohne sich sagen
zu müssen, daß sie sich hier, im Anblick der beiden Burgtürme, im Schutzbereich eines mächtigen Wahrzeichens befand. In dieser
Ausdrücklichkeit wäre es ja auch lächerlich gewesen, nicht aber im Ungefähren des Tagtraums, in den alles mit einfloß: die
nächtliche Umarmung mit ihrem Mann, das helle Morgenlicht und die beginnende Wärme, die wie dunkle Wogenkämme hintereinandergestaffelten
Höhenzüge, der Duft des Kaffees und der erste Schluck und das Dauer und unanfechtbare Beständigkeit versprechende Bild der
beiden Burgtürme. Das alles zusammen war das Bild ihres Glücks.
Sie wußte inzwischen, wie zerbrechlich es gewesen war. Es erschien ihr als ein Hohn auf ihre Phantasie von einem Lebensbündnis
zweier ebenbürtiger, starker Menschen, daß sie Paul an eine so haltlose, schwache Person wie Anja verloren hatte. Am meisten
verwirrte sie, daß es vielleicht gerade das Versinken in Haltlosigkeit und Auflösung gewesen war, was ihn unwiderstehlich
angezogen hatte, so als habe er sich in dieser Erfahrung selbst entdeckt. Sie war so sehr in ihrem Bild von ihrer Ehe mit
Paul befangen gewesen, daß sie immer noch selbstverständlich geglaubt hatte, in einer überlegenen Position zu sein, als sie
ihn gefragt hatte, was ihm denn diese Hysterikerin sexuell geboten habe. Immer noch hatte sie vorausgesetzt, es müsse sich
um eine Art billiger und falscher sexueller Theatralik gehandelt haben. Aber Paul hatte geantwortet: »Sie ist intuitiv und
leidenschaftlich.« Eigentlich waren es nicht diese Worte gewesen, die sie geschockt hatten, sondern die knappe Selbstverständlichkeit,
mit der er sie aussprach. Sofort, in einem wehrlosen Erschrecken, hatte sie begriffen, daß die Worte für ihn notdürftige und
vielleicht sogar widerwillig gebrauchte Formeln waren, mit denen er etwas verschleierte, was er weder ausdrücken konnte noch
ausdrücken wollte. Sie tat einen Blick hinter die Fassade, ohne Genaues zu sehen, aber so, als blicke sie in etwas Abgründiges,
Schwindelerregendes, dem sie nicht gewachsen war. Sie hatte sich nur noch mit einer höhnischen Floskel gewehrt und war sofort
aus dem Zimmer gegangen, um ihre Erschütterung zu verbergen.
Als sie einige Tage später in einem wortlosen Einvernehmen den Versuch machten, den Riß, der zwischen ihnen entstanden war,
im Bett zu flicken, hatte sie gespürt, wie sich ihr Bewußtsein abspaltete und sie sich von außen zu sehenbegann: eine Frau, die sich innerlich erstarrt fühlte und nicht mehr auf den Mann reagieren konnte, der sich verzweifelte
Mühe gab, sie aus ihrer Lethargie zu reißen. Schließlich hatte sie selbst einige Augenblicke lang zu der Theatralik Zuflucht
genommen, deren sie Anja verdächtigt hatte. Danach waren sie nicht mehr zusammengekommen, und eine unerträgliche Stummheit
hatte sich zwischen ihnen ausgebreitet, in der es nichts mehr zu bewegen und zu korrigieren gab. Sie sprachen nur noch miteinander,
um diese Stummheit zu vertuschen.
Langsam hatte sich in ihr der Gedanke aufgebaut, alles zu verändern. Es war noch immer ein fremder Gedanke, den sie verwerfen
konnte und für den sie sich nicht verantwortlich fühlte. Sie schaute ihm nur zu, wie man der Entstehung einer Wetterfront
zuschaut, deren Nahen sich am schnelleren Herzschlag bemerkbar macht. Vielleicht sollte sie, im Gegensatz zu Pauls offensichtlichem
Bemühen, wieder an frühere Gemeinsamkeiten anzuknüpfen, einen ganz neuen Anfang machen. In dürren Worten bedeutete das: sofortige
Trennung, baldige Scheidung und den Verkauf des viel zu großen Hauses. Wie es danach
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