Der Liebeswunsch
weiterging, wußte sie noch nicht. Zuerst
einmal wollte sie für einige Tage nach Greifenstein fahren. Allein natürlich, um Abstand zu gewinnen. Aber auch, um sich dem
Ort noch einmal auszusetzen, den sie als den heimlichen Glücksort ihrer Ehe empfunden hatte. Das glaubte sie ihrer Vergangenheit
schuldig zu sein.
Sie rief sofort ihre Freundin Ruth an, erreichte sie aber erst nach drei Tagen, am Samstagvormittag, so daß sie befürchtete,
daß das Haus längst vergeben sei. Ruth sagte aber, das Haus stehe leer und es lasse sich für das Wochenende undwenn sie wolle, auch noch danach, etwas arrangieren. Sie müsse nur noch den Verwalter, Herrn Kreiner, anrufen, damit er alles
für ihre Ankunft vorbereite.
»Kommst du zusammen mit Paul?« fragte sie.
Es war wohl nur eine rhetorische Frage. Denn Ruth zeigte sich überrascht, als sie antwortete, sie käme allein.
»Allein? Gehst du in Klausur?«
»Ja, so kann man es nennen.«
»Hör mal, das ist ja erklärungsbedürftig. Ich sehe euch immer nur zu zweit.«
»Die Dinge ändern sich, Ruth .«
»Also, das gefällt mir überhaupt nicht. Ihr seid für mich immer das ideale Paar gewesen – einig und untrennbar.«
»Wie die beiden Burgtürme von Greifenstein?« rutschte es ihr heraus.
»Genau! Du sagst es«, lachte die Freundin, »genau so!«
»Nun, man weiß eben nie. Dieses Mal komme ich allein.«
Das Thema war damit abgetan. Ruth sagte, betont sachlich wie ihr schien, sie wolle sich gleich mit Herrn Kremer in Verbindung
setzen und spätestens in einer Stunde noch einmal anrufen, um ihr mitzuteilen, ob alles in Ordnung ginge. Marlene blieb mit
dem Gefühl allein, daß die Entwicklung einen Sprung vorangekommen sei. Unwillkürlich hatte sie etwas dem Spott preisgegeben,
was jahrelang ihre innere Gewißheit gewesen war. Sie war plötzlich neben sich getreten und hatte ihre Gefühle wie mit fremden
Augen als eine peinliche Naivität gesehen, und das Lachen der Freundin hatte in ihren Ohren wie ihr künftiges eigenes Lachen
geklungen. Es war ein abschließendes Gelächter, das das vergangene Leben als einen dummen Irrtum hinter sich zurückließ und
nicht mehr wissen wollte, was es einmal gewesen war. Dochfast genauso schnell, wie sich die Freundin auf die Veränderung eingestellt hatte, fand auch sie sich damit ab. Instinktiv
spürte sie, daß darin ihre Chance lag.
Vor allem ihre Chance gegenüber Paul, der ihr inzwischen immer deutlicher zu verstehen gab, daß er davon ausging, zwischen
ihnen käme allmählich alles wieder in Ordnung und sie würden wie früher weiterleben. Seltsamerweise trug er damit dazu bei,
daß sie innerlich immer weiter von ihm abrückte. Er schien nicht begriffen zu haben, wie er sie verletzt hatte und was grundsätzlich
anders geworden war. Jetzt war er zum Tennisspielen gefahren, wollte auch im Club essen, am frühen Nachmittag zurückkommen
und mit ihr im Garten Kaffee trinken und abends mit ihr zum Kollegentreff gehen, alles so, als liefe ihr gemeinsames Leben
schon wieder in gewohnten Bahnen und er brauche sich darüber keine weiteren Gedanken zu machen. Es war typisch für ihn und
verriet seine Dickfelligkeit, daß er einfach auf Gewohnheit und Praxis setzte. Es würde ihn befremden, wenn sie ihm nachher
sagte, daß sie für einige Tage allein nach Greifenstein fahre. Wahrscheinlich wollte er mitkommen. Dagegen würde sie sich
wehren und ihm klarmachen, daß sie einige Zeit mit sich allein sein wolle. Allerdings mußte sie ihm verschweigen, daß sie
Leonhard für einen Tag nach Greifenstein einladen wollte, um mit ihm über alles zu reden. Leonhard brauchte ein solches Gespräch
vermutlich genauso dringend wie sie, und er war jetzt der einzige Mensch aus ihrer Nähe, dem sie noch vertraute.
Sie überlegte, was sie mitnehmen müsse, und begann die Sachen zurechtzulegen, obwohl sie noch auf den bestätigenden Anruf
der Freundin wartete. Er kam, als sie gerade in derKüche einige Vorräte aus der Tiefkühltruhe in ihre Kühltasche packte, für den Fall, daß der Bäcker und der Supermarkt im Dorf
geschlossen hatten, wenn sie ankam.
»Alles klar«, sagte Ruth. »Kreiner ist gerade zum Haus gefahren, um alles vorzubereiten. Du weißt ja, wo die Schlüssel liegen?«
»Immer noch am selben Ort?«
»Ja, natürlich.«
Sie erklärte es aber noch einmal. Dann sagte sie: »Der Wetterbericht ist ja optimal. Da könnte man ja richtig neidisch werden.«
»Ja. Warum kommst du nicht
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