Der Liebeswunsch
Freunden und guten Bekannten für Kurzurlaube zur Verfügung. Damit ab und zu mal Leben in
die Bude kommt, hatte sie dazu gesagt. In den letzten Jahren waren die Gäste seltener geworden, wohl weil die meisten Menschen
die Einsamkeit des abseits der Straße im Wald gelegenen Hauses scheuten, in dessen näherer Umgebung es außer der Burgruine
und dem dazugehörigen Glockenmuseum keine Sehenswürdigkeiten und keine attraktiven Freizeitangebote gab. Man mußte sich auf
Waldspaziergänge einstellen und, wie sie und Paul es getan hatten, bei schönem Wetter den halben Tag auf der großen Terrasse
verbringen. Im Anblick der doppeltürmigen Burgruine und ferner bewaldeter, sichim Dunst verlierender Höhenrücken hatten sie gefrühstückt und zu Abend gegessen, und solange sie unter dem überkragenden Dach
des Hauses einen schattigen Platz fanden, im Liegestuhl gelegen und gelesen.
Es gab im Haus eine vor allem mit Kunstbüchern, historischen Werken und Memoiren bestückte Bibliothek, in der sie immer etwas
Interessantes gefunden hatte, zuletzt eine Biographie Karls des Kühnen, dem Herzog von Burgund, der den phantastischen Versuch
unternommen hatte, seine ererbten Stammlande in Altburgund und den Niederlanden zu einem glanzvollen Königreich zwischen Frankreich
und Deutschland zu vereinen, ein Unternehmen, bei dem er schließlich scheiterte und nach drei verlorenen Schlachten mit 43
Jahren gefallen war. Sie hatte immer noch das Bild aus der Werkstatt des Rogier van der Weyden vor Augen, das den 26jährigen
Herzog darstellte, einen rotbraunen Lockenkopf mit einem abschätzigen, festen Blick und einem trotzigen Mund mit einer vollen,
etwas vorgeschobenen Unterlippe. Das Gesicht drückte Stolz, Mut und eigenwillige Intelligenz aus, und es war seitdem ihre
innere Ikone, ihr Maßstab für Jugend und Männlichkeit. Das hatte sie sich damals aber nicht gesagt. Sie hatte nur unentwegt
gelesen, so versunken in dieses ferne, fremde Leben, daß sie nicht bemerkt hatte, wie Paul aufstand und fortging und irgendwann
von einem Spaziergang zurückkam. Sie hatte nur einmal hinter sich im Wohnraum die Fernsehübertragung der Sportschau gehört,
in der Paul sich die Fußballberichte anschaute. Es war eine plötzliche Ernüchterung gewesen, die sie sich sofort verboten
hatte. Dies ist eben unsere Welt, hatte sie gedacht. Und Paul vollbrachte seine Heldentaten am Operationstisch. Wahrscheinlich
hätte er damals auch keineschlechte Figur gemacht, wenn er das schwarze Samtwams des Herzogs mit dem hochgestellten, vorne am Hals offenen Kragen getragen
hätte und dazu die goldene Kette über der Brust.
Paul den Kühnen hätte man ihn wohl nicht genannt. Es war auch etwas anderes in ihm, ein Zug von Passivität und eine Neigung
zur Abhängigkeit, die im Gegenzug seine Treulosigkeit hervorbrachte. Damals hatte sie das nicht gesehen. Sie war von Leonhard
zu Paul übergewechselt, um näher an das Bild heranzukommen, das sie von sich selbst hatte. Was sie nicht erkannt hatte, war
die Tatsache, daß Leonhard trotz allem ein erwachsenerer Mann war als Paul. Nur fehlte es ihm an körperlicher Attraktivität.
Das war damals entscheidend für sie gewesen. Sie hatte nicht gewußt, wie stark sie von Bildern abhängig war, vor allem von
Bildern, die Kraft und Festigkeit und sogar kriegerische und heroische Qualitäten ausstrahlten.
Wie zum Beispiel das mächtige Westwerk der Greifensteiner Burgruine. Die beiden runden, aus schweren Bruchsteinen gemauerten,
hochragenden Türme bildeten, dicht beieinanderstehend, die Eckpfeiler des Stücks der inneren Burgmauer, in der sich das Haupttor
befand, und waren oberhalb der Mauer noch einmal durch einen brückenförmigen Wehrgang verbunden, was die Geschlossenheit ihrer
Erscheinung noch bedeutend verstärkte. Die Türme waren gleich stark und gleich hoch und unterschieden sich nur dadurch, daß
der eine ein spitzes, der andere ein etwas abgeflachtes rundes Dach trug. Das vor allem machte sie in ihren Augen zu einem
Paar. Sie stellten Mann und Frau dar, und zwar in Gestalt einer ebenbürtigen, engen, unangreifbaren Partnerschaft. Es war
ihr Geheimbild einer idealen Ehe.
Der Eindruck war auch deshalb so stark, weil das turmbewehrte Westwerk ihrem Sitzplatz auf der Terrasse nicht nur ungefähr
in gleicher Höhe und scheinbar nähergerückt gegenüberstand, sondern von dort in ihrer durch die Waldbäume eingeengten Perspektive
das einzige sichtbare
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