Der Liebeswunsch
Zufallsbekanntschaften in ihre Wohnung mitgenommen. Einer
dieser Männer, ein Straßenmusiker, der vermutlich drogensüchtig war, verschwand am nächsten Tag mit all ihrem Bargeld, das
sie lose in ihrer Handtasche aufbewahrt hatte. Bei ihr kam wirklich eins zum anderen. Das meiste habe ich aber erst nachher
erfahren. Schließlich habe ich sie mit Hilfe der Feuerwehr in einem katastrophalen Zustand zum Entzug in eine Klinik gebracht.
Einen Tag vorher, am Samstagvormittag, war im Festsaal der Flora mit großem Aufwand Leonhards Ernennung zum Präsidenten des Oberlandesgerichtes gefeiert worden. So seltsam es erscheinen mag, ich war noch nie in der Flora und ihrem zentralen
Prunk- und Festgebäude gewesen, das noch immer den Glanz und den Reichtum der Aufstiegsepoche des Bürgertums ausstrahlt. Ich
kam mit Absicht eine Stunde früher, um mir die Parkanlage und die von gußeisernen Säulen getragene Glasarchitektur der Gewächshäuser
anzusehen. Auf dem Parkplatz standen schon einige große Wagen, auch Leonhards Auto. Ich erinnerte mich, daß er mir gesagt
hatte, eine Stunde vor Beginn der eigentlichen Festveranstaltung im großen Saal gebe der Justizminister zusammen mit dem scheidenden
Präsidenten des Oberlandesgerichtes einen Empfang in der Orangerie. »Für die Honoratioren und Repräsentanten«, fügte er summarisch
hinzu. Ich bat ihn, einige zu nennen, weil ich wußte, wie bedeutungsvoll dieser Tag für ihn war, und er sagte, beiläufig im
Ton, aber doch in untergründig mitschwingendem Stolz: »Nun ja, die Präsidenten der anderen Gerichte, Landgericht, Verwaltungsgericht,
Arbeitsgericht, der Vertreter der Richterschaft, der Generalstaatsanwalt, der Vorsitzende des Anwaltvereins, der Dekan der
juristischen Fakultät, na ja, und noch einige andere Repräsentanten des öffentlichen Lebens, zum Beispiel der Polizeipräsident.«
Ich habe es mir merken können, weil einige der Genannten später als Redner auf der blumengeschmückten Bühne erschienen, an
erster Stelle der Justizminister, einer der Hauptredner, aber nicht unbedingt der beste, auch dann nicht, wenn ich Leonhard,
der, wie gewohnt, eine brillante Rede hielt, erst gar nicht in den Vergleich einbeziehe.
Es war eine gute Idee, eine Stunde vor Beginn herzukommen, denn fremde Orte erschließen sich am besten, wennman sie zu ungelegener Zeit aufsucht, dann, wenn sie noch ungerüstet und ganz für sich sind. Ich kam vom Parkplatz her in
den französischen Garten mit seinen ornamentalen Blumenbeeten und der Fontäne, deren weiße Wasserstrahlen rauschend in das
Becken fielen, und betrachtete von dort aus die Gartenfront des Gebäudes mit ihren hohen Rundbogenfenstern, hinter denen der
große Festsaal lag. In der Mitte der Gebäudefront, auf die eine breite Freitreppe zulief, befanden sich drei Fenstertüren,
die zur Terrasse hin geöffnet werden konnten. Das war wegen des schönen sonnigen Herbstwetters offenbar auch vorgesehen, denn
man hatte Tische und Stühle auf der Terrasse aufgestellt, und zwei festlich gekleidete Ober in grauseidenen Spenzern und schwarzen
Hosen kontrollierten gerade die Gedecke. Der Festakt sollte einschließlich der Musikstücke zum Beginn und zum Schluß etwa
zwei Stunden dauern. Danach gab es ein kaltes Buffet, das wahrscheinlich jetzt in den Nebenräumen des Saals aufgebaut wurde.
Es war wirklich ein großer Tag für Leonhard. Ich freute mich für ihn. Spätestens mit diesem Erfolg hatte er sein Leben in
Ordnung gebracht.
Meine eigenen Ziele hatte ich nur zur Hälfte erreicht. Das Haus war verkauft, aber ich arbeitete immer noch im Krankenhaus.
Meine Vorstellung, mich in einem Verbund von mehreren Arztpraxen als Internistin niederzulassen, hatte sich als sehr schwierig,
wenn nicht gar unmöglich erwiesen. Was sie suchten, waren Kardiologen, Gastroenterologen, Lungenfachärzte, Urologen, Orthopäden
und Neurologen. Als Fachärztin für Innere Medizin paßte ich da nicht hinein. Ich war zu wenig spezialisiert. Fast all meine
Kompetenzen waren in die Hand der Spezialisten übergegangen. Wahrscheinlich blieb mir nichts anderes übrig, als mir eine schonbestehende internistische Praxis zu kaufen, die aus Altersgründen aufgegeben wurde, oder aber im Krankenhaus zu bleiben und
dort zwischen den vielen jungen Ärzten, die gerade von der Uni kamen, allmählich zum Fossil zu werden. Vielleicht war der
Kauf einer eigenen Praxis doch noch besser, als immer so
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