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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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weiterzumachen.
    Sicher war ich mir nicht. Ich hatte in der Zeit, als ich mich von Paul trennte, eine romantische Vorstellung von Selbständigkeit
     entwickelt, die ihre Faszination verloren hat, seitdem ich allein lebe. Es handelte sich wohl doch in der Hauptsache um medizinisch
     immer anspruchsloser werdende Fließbandarbeit und Bürokram und Ärger mit wechselndem Personal. Abends konnte ich mich dann
     zu Hause noch zwei Stunden vors Fernsehen setzen, eine halbe Flasche Rotwein trinken und ins Bett sinken. Seltsam, wie viele
     Illusionen ich verloren hatte. Nachträglich scheint mir manchmal das alte Leben, das wir geführt haben, trotz Selbsttäuschung
     und Betrug das bessere gewesen zu sein. Völlig unverständlich ist mir auch oft, daß ich Paul, einen liebeshungrigen, liebesbedürftigen
     Mann, abgewiesen habe, als er noch einmal mit mir schlafen wollte, bevor wir auseinandergingen, was vielleicht auch nicht
     besonders gescheit war. Ich muß lange mit vielen Idealisierungen gelebt haben, vor allem mit einem überzogenen Bild von mir
     selbst. Jetzt waren mir die Augen aufgegangen, aber es gab nichts Interessantes mehr zu sehen außer dem bevorstehenden Festakt
     und das anschließende Buffet. Ernüchterung bedeutet, daß man die Welt als eine Ansammlung von Tatsachen sieht und nicht mehr
     als ein großes Versprechen. Ob Paul mit seiner rastlosen Suche nach Frauen diese Erfahrung kannte? Und konnte eine Frau wie
     Anja, die immer in Blickweite einer möglichen Katastrophe lebte, ihnvorübergehend besser gegen die Ernüchterung schützen als ich? Ich weiß es nicht. Ich habe das alles nicht verstanden, und
     das, glaube ich jetzt, war auch der Grund meiner Eifersucht. Aber ich monologisiere ja nur, und keiner widerspricht mir, weil
     es keiner hört.
     
    Ich war entlang einer Wassertreppe durch einen alten Laubengang geschlendert, hatte mit Respekt auf einer Schrifttafel gelesen,
     daß der Ginkgobaum, vor dem ich stand, einer 270 Millionen Jahre alten Baumfamilie angehörte, war dann einige Zeit, botanische
     Namen lesend, die ich gleich wieder vergaß, in der dunkelgrünen Tropenwaldatmosphäre eines Gewächshauses an einer bizarren
     Pflanzenvielfalt vorbeigegangen, bis mir plötzlich einfiel, daß es Zeit war zurückzugehen.
    Sowie ich um den Seitenflügel des Festgebäudes herumbog, kamen mir vom Parkplatz aus Scharen schwarz gekleideter Männer und
     einige wenige, ebenfalls dunkel gekleidete Frauen entgegen, die über die Freitreppe und die Terrasse in den Festsaal gingen.
     Unter ihnen sah ich eine einzelne Frau, die mir sofort auffiel, weil sie in dieser Umgebung geradezu unerlaubt anders aussah.
     Sie hatte ein extremes schwarzes Minikleid an, und ihre offenen Haare hingen ihr in einem dichten Schwall über die Schultern
     fast bis auf die Taille herab. Ich sah, daß sie Blicke auf sich zog, anscheinend ohne es zu bemerken. Wie in sich selbst eingeschlossen,
     stieg sie die Treppe hoch. Und erst im zweiten Augenblick meines Befremdens erkannte ich, daß es Anja war.
    Ich folgte ihr, unschlüssig, was ich tun sollte. Sie war bestimmt nicht wie ich von Leonhard zu diesem Festakt eingeladen
     worden, und ich verstand nicht, was sie hier suchte.Oben im Saal, nicht weit von den geöffneten Terrassentüren entfernt, stand sie und schaute sich um. Es waren schon viele Menschen
     da. Etliche hatten in den Stuhlreihen Platz genommen und lasen das ausgelegte Programm, andere standen in Gruppen beisammen
     und unterhielten sich, während Ober mit Tabletts herumeilten und Getränke anboten. Anja stand allein dort, eine auffallende
     Erscheinung. Mit der ihr eigenen zwiespältigen Ausstrahlung von Triebhaftigkeit und Schüchternheit schien sie wie in einem
     unsichtbaren Bannkreis zu stehen und Ausschau nach Leonhard zu halten, der wohl noch beim Empfang in der Orangerie war.
    Ich sprach sie an: »Hallo, Anja, wie kommst du denn hierher?«
    »Wieso? Findest du es unpassend?« fragte sie.
    »Nein, es ist schön, sich mal wieder zu sehen«, sagte ich und zeigte ihr ein freundliches Lächeln, denn sie erschien mir gereizt
     und unruhig, und ich wollte, daß sie sich entspannte.
    »Ich hab's in der Zeitung gelesen«, sagte sie. »Und da dachte ich, es ist gut, mich ihm wieder einmal zu zeigen. Wir sind
     ja immer noch nicht geschieden, wegen Daniel und überhaupt, weil wir uns nicht einigen konnten. Inzwischen tut er so, als
     gäbe es mich nicht.«
    »Aber hier kannst du nicht mit ihm reden.«
    »Ich will ja

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