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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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zum Rheintal
     hinunterfloß. An manchen Krümmungen hatte das Wasser das Ufer ausgehöhlt, so daß die Wurzeln der Uferbüsche freilagen. Angeschwemmtes
     fahles Gras hatte sich darin verfangen und hing bärtig über dem Wasser, das zur Zeit ziemlich niedrig war und in schmalen
     Rinnsalen um die großen dunkelbraunen Gesteinsbrocken herumlief, die in seinem Bett lagen, anstatt sie wie in Regenzeiten
     oder während der Schneeschmelze schäumend zu überspülen. Es hatte, ungewöhnlich für die Jahreszeit, lange Zeit nicht geregnet.
     Jetzt näherte sich laut Wetterbericht ein ausgedehntes Tiefdruckgebiet von den britischen Inseln, das heute nacht Westdeutschland
     mit starken Regenfällen überziehen würde und dem weitere Tiefs folgten. Das waren keine guten Aussichten für seine geplanten
     Besichtigungen. Aber er wollte an seinen Plänen festhalten und nicht früher heimkehren, als er erwartet wurde, nicht nur,
     um seinen Interessen zu folgen, sondern auch, um eine mögliche Konfrontation zu vermeiden, auf die er nicht vorbereitet war.
    Ja, er mußte sich vorher alles im Kopf zurechtlegen, als bereite er einen schwierigen Prozeß vor. Er mußte den Tatbestand
     kennen und seine eigene Einstellung und den ausbeiden Positionen sich ergebenden Verfahrensplan. Diese Reise nach Trier, so bedenklich sie einerseits war, da er nicht wußte,
     was hinter seinem Rücken geschah, gewährte ihm einen Aufschub aller Entscheidungen, was auf jeden Fall ein strategischer Vorteil
     war.
    Draußen vor dem Fenster war der Bach verschwunden. Wenn er sich nicht täuschte, fuhr der Zug jetzt langsam abwärts, dem Moseltal
     entgegen. Und als habe er nicht nur in der Landschaft, sondern auch innerlich eine Wasserscheide überschritten, begann er
     sich auf die Tagung in der Richterakademie einzustellen. Dort würde er viele alte Bekannte wiedersehen, die nichts von seinen
     privaten Problemen wußten. Sie unterstellten ihm ein gelungenes Leben, ohne Affären und dunkle Abwegigkeiten. Für sie war
     er eine geschlossene Persönlichkeit. Er spürte, wie ihn das ordnete und ihm seine alte Fähigkeit wiedergab, immer erst einmal
     das Naheliegende zu tun.
     
    Das Hotel lag in der Nähe der Porta Nigra und war vom Bahnhof aus bequem durch eine Unterführung zu erreichen. Beim Empfang
     traf er seinen Duisburger Kollegen Hermann Aurich, der mit demselben Zug gekommen war und gerade das Anmeldeformular ausfüllte.
     Leonhard hatte ihn in der Unterführung vor sich hergehen sehen, war aber vor dem Hotel noch einmal stehengeblieben, um einen
     Blick auf die Porta Nigra zu werfen, die als ein mächtiges Bollwerk auf einem etwas abgesenkten inselhaften Terrain stand,
     das vom Autoverkehr in einem weiten Bogen umfahren wurde. Er kannte das berühmte Stadttor von seinen früheren Besuchen, ebenso
     die beiden römischen Thermen, Konstantins Palastaula und den Dom. Nur das wieder ausgegrabene Amphitheater hatte er noch nicht gesehen. Er hatte nicht nur wegen der Porta einen Augenblick gezögert, sondern auch,
     weil er keine Lust hatte, an der Rezeption mit Aurich zusammenzutreffen und die kollegialen Freundlichkeiten austauschen zu
     müssen. Aber Aurich machte es ihm leicht, indem er sich erfreut zeigte und die üblichen Fragen nach dem Befinden stellte,
     die man mit »danke gut« beantworten konnte.
    Sie fuhren gemeinsam im Lift in den dritten Stock, und Aurich schlug vor, sich in einer Stunde zu treffen und zu zweit mit
     einem Taxi in die Akademie zu fahren. Ihre Zimmer lagen nebeneinander. Leonhard konnte hören, wie Aurich den Fernseher einschaltete,
     dann den Ton gleich leiser stellte. Er blickte sich um. Das Zimmer war etwas schmal, ging auf einen Hinterhof hinaus, so daß
     die Verkehrsgeräusche der Umgehungsstraße nicht zu hören waren. Er packte seinen Koffer aus, hängte seine Jacke in den Schrank,
     legte das Manuskript seines morgigen Vortrags in das mittlere Schrankfach, streifte die Schuhe von den schmerzhaft geschwollenen
     Füßen und legte sich auf das Bett. Er war nicht müde, aber er hatte ein Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug, bevor er sich in
     das Gedränge der Tagung begab, wo er vermutlich zahlreiche Bekannte wiedererkennen mußte, die er seit Jahren nicht gesehen
     hatte. Das war nicht gerade seine Stärke. Es war nur gut, daß er Aurich bei sich hatte, der immer gleich auf die Leute zuging.
     Wahrscheinlich würde man im Tagungsbüro kleine Namensschilder erhalten, die man sich ans Revers heften konnte. Längst

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