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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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wie ein großer Sarg.
     
    Er wurde wach mit dem Gefühl, daß nur eine Minute Zeit vergangen war. Aber es war vier Uhr, als er das Licht anknipste. Draußen
     klatschte der Regen in heftigen Böen gegen das Fenster, und sein Herz schlug schnell, obwohl sein Kopf sich anfühlte, als
     ob er von einer gipsernen Bandage umschlungen sei. Er wußte, daß er nicht mehr einschlafen konnte. Aber in wenigen Stunden
     mußte er sowieso aufstehen. Jetzt konnte er nur noch das Licht löschen und versuchen, im Dunkel ruhig liegenzubleiben. In
     beiden Ohren hörte er seinen Herzschlag, als sollte ihm etwas eingeprügelt werden, was er nicht denken mochte. Ja, sie waren
     wahrscheinlich jetzt zusammen, jetzt, da sie wußten, daß er verreist war und sie ihn nicht fürchten mußten. Er konnte sich nicht vorstellen, was sie zueinander führte, aneinander fesselte.
     Es mußte etwas sein, was sie als einmalig und überwältigend erlebten, Küsse und Berührungen, die alle anderen Erfahrungen
     auslöschten und an die er nie heranreichte, er, ein plumper, unbeholfener Mann, der sich seit seiner Jugend, als er sich selbst
     zu sehen begann, an seinen Defiziten vorbeigeschwindelt hatte, indem er alles andere für wichtiger erklärte, und der nun zum
     zweiten Mal erlebte, daß man ihn hinterging.
    Um sich abzulenken, versuchte er, an seinen Vortrag zu denken und den Ablauf seiner Argumentation noch einmal durchzugehen.
     Es gelang ihm nur schlecht, in einer abgestumpften, ungefähren Form, die er seiner Müdigkeit zuschreiben konnte. Aber das
     löschte nicht den Eindruck, daß der Vortrag, so wie er ihm jetzt vor Augen gekommen war, zum großen Teil aus aufgeblähten
     Selbstverständlichkeiten bestand. Er hatte ihn viel zu schnell geschrieben, unterbrochen durch die Arbeit am Prozeßplan und
     seine Zahnoperation und immer wieder abgelenkt durch seine persönlichen Irritationen. Offenbar hatte sein Bedürfnis, schnell
     etwas in die Hand zu bekommen, woran er nicht zweifeln mußte, seinen Blick dafür getrübt, daß der Text, den er, aufgeputscht
     von mehreren Tassen starken Kaffees, ins Diktiergerät gesprochen hatte, allenfalls ein Rohskript und kein besonders gutes
     war.
    Was konnte er jetzt tun? Er hatte noch vier Stunden Zeit, um zu retten, was zu retten war. Aber er fühlte sich gelähmt von
     der Schlaftablette, die allmählich, als sei der Energiestoß seiner Aufregung verpufft, wieder ihre Wirkung entfaltete und
     ihm, wenn er nicht gleich das Licht einschaltete, dieLider schließen würde. Halb betäubt rappelte er sich auf und ging ins Badezimmer, um zu duschen. Möglicherweise hörte das
     Aurich im Zimmer nebenan. Aber der schlief wahrscheinlich fest, weil für ihn, wie für die meisten Tagungsteilnehmer, nichts
     auf dem Spiel stand. Ihm konnte er notfalls auch erklären, daß ihm noch einige wichtige Korrekturen zu seinem Vortrag eingefallen
     seien. Doch das war nur möglich, wenn es ihm noch gelang, dem Vortrag eine akzeptable Fassung zu geben.
    Als er, notdürftig angezogen und versorgt mit einer Flasche Mineralwasser und einer Tüte Erdnüsse aus der Minibar, an dem
     kleinen Schreibtisch saß und die ersten Seiten seines Vortragsskriptes las, mußte er erkennen, daß er am Rand eines Desasters
     stand. Fast alles, was er geschrieben hatte, war so nicht brauchbar. Es war bestenfalls ein mit allen typischen Mängeln einer
     vorläufigen Rohfassung behaftetes Manuskript. Gleich die erste Seite konnte er streichen. Sie bestand fast nur aus Eröffnungs-
     und Umgehungsphrasen, weil er offensichtlich nicht gewußt hatte, wie er in sein Thema hineinfinden sollte. Dann folgten viel
     zu ausführliche Erörterungen über die perspektivische Selektivität von Zeugenaussagen. Aber das war schon das Thema eines
     anderen Vortrages. Sein eigentliches Thema trat erst auf der vierten Seite im informationstheoretischen Begriff des »Rauschens«
     hervor. Dazu hatte er auf einem Extrablatt neben anderen Anmerkungen zur Diskussion eine kleine lyrische Marginalie über die
     Meeresbrandung notiert, die er irgendwann gelesen hatte. Von ihr aus konnte er einen guten Zugang zu seinem Thema finden.
     Vielleicht war es sinnvoll, sie vorzulesen, auch wenn das für eine Juristentagung ein ungewöhnlicher und befremdlicher Anfang
     war.
    Der kleine Text handelte vom Geräusch der Brandung. Er beschrieb es als eine Unendlichkeit sich überlagernder Stimmen, die
     sich gegenseitig löschten. Wenn er das poetische Bild so akzeptierte, dann

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