Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
Vom Netzwerk:
nicht
     alle taten das.
    Wie wäre es, dachte er, wenn ich die Abendveranstaltung schwänzte und Aurich anriefe, um ihm zu sagen, ich fühlte mich nicht
     wohl? Man würde dann sicher nach ihm fragenund ihn am nächsten Tag besorgt beobachten, einige, die ihn darum beneideten, daß er zum zweiten Mal einen Vortrag hielt,
     vielleicht sogar mit Schadenfreude. Nein, er mußte das durchstehen, obwohl er sich angeschlagen fühlte und sein Herzschlag
     wieder stolperte, wie öfter in der letzten Zeit. Das war sicher der vorausgesagte Wetterwechsel, die sich nähernde Sturm-
     und Regenfront des aus Nordwesten kommenden Tiefs. Noch vor einem Jahr hatte ihm das nichts ausgemacht. Seitdem schien sich
     grundsätzlich etwas verändert zu haben. Er mußte sich bald einmal untersuchen lassen, von irgendeinem fremden Arzt, jedenfalls
     nicht von Marlene. Oder vielleicht brauchte er eine Kur. Doch daran war vorläufig nicht zu denken, schon wegen der anstehenden
     Prozesse nicht. Er versuchte, es bei dieser Begründung zu belassen und seinen unerwiesenen Verdacht aus seinen Überlegungen
     zu verbannen. Gegen seinen Willen sah er wieder Anjas flackernden Blick, als sie sich auf der Treppe nach ihm umdrehte, mit
     ihren Schuhen in der Hand.
     
    Das Telefon klingelte, und Aurich meldete sich: »Wenn Sie einverstanden sind, bestelle ich jetzt unser Taxi.«
    »Ja gut, ich komme«, sagte er.
    Er setzte sich auf die Bettkante und lockerte die Schnürsenkel für den Fall, daß die Füße wieder anschwollen, wenn er bei
     dem Empfang viel stehen mußte. In etwa drei Stunden würde er wieder hier sein, sagte er sich, denn an den kollegialen Gesprächsrunden,
     die sich gewöhnlich im Anschluß an die Eröffnungsveranstaltung noch in irgendwelchen Restaurants zusammenfanden, wollte er
     sich nicht beteiligen. Als er aus dem Lift trat, stand Aurich da und blickte gerade auf die Uhr. »Wir haben noch gut Zeit«,
     sagte er und ließ ihmmit einer Handbewegung den Vortritt. Draußen war es dämmerig, und ein böiger Wind empfing sie mit einem Regenschauer. Das
     Taxi stand da mit schlagenden Scheibenwischern.
    »Zur Richterakademie«, sagte er.
    Der Fahrer, wohl ein Ausländer, nickte und fuhr los.
    »Wendland und Gruppe sind übrigens auch da«, sagte Aurich. »Das sind doch Ihre Kölner Kollegen.«
    »Wendland nicht mehr. Der ist jetzt in Hagen.«
    »Ach, das ist mir entgangen.«
    Es entstand eine Pause, in der Aurich über die Versetzung des Kollegen Wendland nachzudenken schien. Dann sagte er: »Ich bin
     übrigens sehr gespannt auf Ihren Vortrag. Sie trauen sich immer an die fundamentalen Themen heran.«
    »Na ja, manche kritisieren das. Aber ich würde mich sonst langweilen.«
    »Verstehe ich«, sagte Aurich. Auch er war einer der vielen Meister in solchen Passepartout-Sätzen, die man in den nächsten
     Stunden im Überfluß hören würde. Es war das Grundgeräusch des Lebens, wenn Menschen in großer Zahl auf engem Raum zusammenkamen.
     
    Als Leonhard, nun doch fast vier Stunden später, in sein Zimmer zurückkam und hinter sich abschloß, empfand er einen Augenblick
     dankbar die Stille und karge Gesichtslosigkeit des schmalen Raums, der den Stimmenschwall der letzten Stunden in seinem Kopf
     verebben ließ. Fast jeder, mit dem er ins Gespräch gekommen war, hatte ihn auf seinen morgigen Vortrag angesprochen und großes
     Interesse an dem Thema bekundet, und einige hatten sich dabei auch auf den Vortrag bezogen, den er vor zwei Jahren in der
     Akademie gehalten hatte. Nur die Referenten hatten sich untereinander über ihre Vorträge ausgeschwiegen, und wenn er sich nicht
     täuschte, waren sie sich aus dem Weg gegangen. Die meisten Tagungsteilnehmer saßen jetzt wohl noch zusammen, um sich gegenseitig
     vor Augen zu führen, daß man dazugehörte. Er hatte das nie getan, nicht einmal, als er noch Assessor war. Doch er hatte auch
     nie das Fremdheitsgefühl verloren, das er dem Betrieb gegenüber empfand und das ihn stets nötigte, gerüstet zu sein, wenn
     er sich hineinbegab. Auf keinen Fall durfte man ihm anmerken, daß er keinen sicheren Hintergrund mehr hatte. Auch die Umkehrung
     galt: Wenn er das hier gut bestand, würde er mehr Sicherheit und Kraft haben, seine privaten Probleme zu lösen. Zur Entspannung
     trank er noch eine Flasche Bier aus der Minibar und schluckte gegen seine Gewohnheit eine Schlaftablette, bevor er sich hinlegte
     und das Licht ausknipste. Es überraschte ihn, wie stockfinster der Raum war. So finster

Weitere Kostenlose Bücher