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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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für unser Jahrbuch.«
     Kurz vor Ende der Kaffeepause trat Aurich auf ihn zu und drückte ihm die Hand. »Großartig«, sagte er. »Ist doch alles wunderbar
     gelaufen.«
    Sie gingen zusammen in den Vortragssaal zurück. Es folgte ein Vortrag über das Thema »Wirklichkeit und Verdacht«, den er vor
     Müdigkeit kaum noch verstand, obwohl ihn das Thema interessierte. Einmal horchte er auf, weil der Vortragende ein kurioses
     Beispiel brachte, das ohne Zusammenhang in der Schwebe blieb wie ein verpuffender Witz: »Ein Realist sagt: In diesem Raum
     befindet sich kein Rhinozeros. Der Eifersüchtige antwortet: Man kann es nur noch nicht sehen.«
    Jaja, dachte er, das stimmt. Aber es blieb so matt, daß es ihn nicht berührte. Bis zum Schluß des Vortrags kämpfte er dagegen
     an, daß ihm die Augen zufielen. Am gemeinsamen Mittagessen nahm er noch teil. Dann entschuldigte er sich bei Schorn und fuhr
     ins Hotel, um sich ins Bett zu legen. Erst am späten Nachmittag wurde er wach, benommen, aber ausgeruht und in dem Gefühl,
     wieder allen Anforderungen gewachsen zu sein. Bevor er in die Akademie fuhr, rief er zu Hause an. Er wußte eigentlich nicht
     genau, weshalb. Aber er hatte den Wunsch, etwas von sich mitzuteilen, etwas, das ihn zu Hause einen Moment anwesend sein ließ.
    Frau Schütte meldete sich, die gewöhnlich nur vormittags kam.
    »Ihre Frau ist leider nicht da«, sagte sie.
    »Ach so«, sagte er. »Wissen Sie, wo sie ist?«
    »Sie sagte etwas von einer Veranstaltung beim Sender. Aber Genaues weiß ich nicht. Auch nicht, wann sie nach Hause kommt.
     Soll ich ihr etwas ausrichten?«
    »Nein, danke, das ist nicht nötig«, sagte er.
    Er fühlte sich keineswegs erschüttert, nicht einmal aufgeregt, eher ganz ruhig, als klärten sich die Dinge.

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    11
Am fremdesten Ort
    Jedesmal, wenn Paul sich verspätet hatte, was oft der Fall war und sich nicht verhindern ließ, bewegte er sich in einem Fluidum
     von Vorahnung auf sie zu. Draußen waren die Straßen der Stadt, die er flüchtig registrierte, um den gewohnten, den kürzesten
     Weg einzuschlagen, aber er war, ohne Geduld für Einzelheiten, sich immer schon voraus, gebannt von einem Bild, das den Eindruck
     ankündigte, den er erwartete, Wiederholung des Augenblicks, mit dem irgendwann ihr Spiel begonnen hatte und der sich seitdem
     immer wieder mit kleinen, unvorhersehbaren Veränderungen erneuerte: Sie erwartet ihn im Bett, das breit und beherrschend in
     dem kleinen, nichtssagenden Zimmer steht. Sie liegt dort auf der Seite, mit dem Rücken zur Tür, durch die er leise eintritt,
     und es sieht aus, als schliefe sie. Auf der faltigen weißen Bettdecke liegt ihr nackter Arm, vollständig dargeboten von der
     Hand bis zur Schulter, in der Gelöstheit tiefer Entspannung. Das von dem Baumwollvorhang vor dem Fenster gefilterte Licht
     löst die Konturen nicht auf, aber verschmilzt sie zu einem Bild in sich gekehrter, inwendiger Stille. Sein Blick erfaßt Arm
     und Schulter zusammen mit dem Strudel ihrer Haare auf dem weißen Kissen.
    Schläft sie wirklich? Will sie, daß er sie weckt, indem er sich leise nähert und ihre nackte Schulter oder, die Haarebeiseite schiebend, ihre schlafwarme Wange küßt? Er weiß es nie, wenn er eintritt, weiß nicht, was heute ihr Spiel sein wird,
     weiß nicht einmal, ob es überhaupt ein Spiel ist oder jenseits aller Absicht, Ausdruck ihrer Empfindungen in diesem Augenblick.
    Eilig, mit klopfendem Herzen, ist er die Stufen des schäbigen Treppenhauses hochgestiegen und hat im 3. Stock leise wie ein
     Einbrecher die Tür des Einzimmerapartments aufgeschlossen, das er für unbestimmte Zeit gemietet hat. Dort vor der Tür ist
     alles von ihm abgefallen, was sein alltägliches Leben bestimmt und ihn für andere Leute zu einer fest umrissenen Person macht.
     In ihm ist nur noch die Furcht, sie könne schon wieder gegangen sein, weil er sich verspätet hat, und in diesem Augenblick
     denkt er, daß er es schwer ertragen könnte, wenn das Zimmer leer wäre.
    Wie immer hat sie sich eingeschlossen und ihren Schlüssel abgezogen und zusammen mit ihrer Halskette neben sich auf den Nachttisch
     gelegt. Auch ihre drei Ringe hat sie abgestreift, darunter ihren Ehering. Sie will keine Zeichen ihres üblichen Lebens mehr
     an sich haben, wenn sie sich umarmen. Er vergißt das meistens und sieht es erst nachher, wenn sie die Kette wieder umlegt
     und die Ringe auf ihre Finger schiebt: Insignien ihrer Gefangenschaft, in die sie sich

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