Der Liebeswunsch
Korrekturen, Einschüben, Umstellungen und Streichungen in einen Parcours mit dicht aufeinanderfolgenden Hindernissen verwandelt hatte.
Er löffelte seinen Obstsalat, als Aurich zurückkam.
»Ich habe mit der Akademie telefoniert. Da ist jetzt großer Wirbel wegen der notwendigen Programmänderung. Dr. Schorn hat
mich gebeten, Ihnen auszurichten, daß man Sie wahrscheinlich bitten wird, heute den Anfang zu machen.«
»Ja, gut«, sagte er.
Um so schneller ist es vorbei, sagte er sich. Doch das konnte er sich nicht vorstellen.
»Dann bestelle ich jetzt das Taxi«, sagte Aurich.
Als sie in der Akademie eintrafen, war der Vortragssaal schon fast besetzt, und der sichtlich nervöse Tagungsleiter, der zusammen
mit zwei Kollegen vor den geöffneten Saaltüren auf sie wartete, kam auf sie zu.
»Gut, daß Sie da sind, Herr Veith! Herr Aurich hat Sie ja wohl schon darauf vorbereitet, daß wir umdisponieren mußten. Wir
wollen heute mit Ihrem Vortrag beginnen, weil er sich von der Thematik her am besten zur Eröffnung unseres Programms eignet.
Es tut mir leid, daß wir Sie so überfallen müssen.«
»Das ist doch nur eine verständliche Verschiebung und kein Überfall.«
»Richtig, ganz richtig. Ich bin Ihnen sehr verbunden.«
»Wie geht es dem Patienten?« fragte er.
»Wir haben keine neuen Nachrichten. Aber es ist wohl ein Herzinfarkt.«
»Gestern abend habe ich noch bis gegen eins mit ihm zusammengesessen. Mir ist nicht das Geringste aufgefallen«,sagte Aurich. »Es war wohl dieser gewaltsame Wetterumschlag.«
»Den habe ich auch gespürt«, sagte Leonhard.
Sie traten in den Saal, in dem ein Stimmengewirr herrschte. Offenbar hatte sich die Nachricht vom Herzinfarkt des vorgesehenen
Referenten inzwischen verbreitet. Und nun, da er vom Tagungsleiter zu einem reservierten Platz dicht beim Rednerpult begleitet
wurde, sahen alle, daß er den Eröffnungsvortrag halten würde. Er hielt sein Manuskript, dessen Blätter er im Hotelzimmer noch
einmal durchgezählt und geordnet hatte, mit der Vorderseite nach unten auf dem Schoß, um die wilden Korrekturen der Nacht
vor fremden Blicken zu schützen, wollte sie auch selbst nicht sehen. Er fühlte sich wie versteinert, unfähig, einen Gedanken
zu fassen, und nickte nur automatisch, als Schorn ihm zuflüsterte: »Wir warten noch ein paar Minuten wegen der unvermeidlichen
Nachzügler.«
Nach einer Weile glaubte er zu hören, daß die Saaltüren geschlossen wurden. Das Stimmengewirr verebbte, ließ einen Augenblick
einzelne Stimmen in der Nähe hervortreten, die dann auch verstummten. Schorn, der sich vorhin umgeblickt und damit vermutlich
dem Hausmeister das Zeichen zum Verschließen der Saaltüren gegeben hatte, erhob sich und ging zum Rednerpult.
Er begrüßte die Versammlung zum Beginn des heutigen Tagungstages und kam gleich darauf zu sprechen, daß der im Programm angekündigte
Vortrag des Kollegen Volker Benthaus leider ausfalle, da der Referent vergangene Nacht mit Kreislaufproblemen in ein örtliches
Krankenhaus eingeliefert werden mußte. Die Tagungsleitung glaube im Sinne aller Teilnehmer zu handeln, wenn sie dem Kollegen
einebaldige vollständige Genesung wünsche. Er machte eine kurze Pause für den zustimmenden Applaus.
Als er wieder begann, hatte seine Stimme einen neuen optimistischen Klang. »Dankenswerterweise«, so begann er, »haben wir
durch die Bereitschaft unseres geschätzten Kollegen Dr. Leonhard Veith, seinen erst für den Nachmittag vorgesehenen Vortrag
schon jetzt zu halten, für die Eröffnung des heutigen Tagungsprogramms einen vollwertigen Ersatz gefunden. Dies ist, lassen
Sie mich das sagen, das Gegenteil einer Notlösung. Denn der Vortrag, den wir nun hören werden, hat, wie schon sein Thema verrät,
ähnlich fundamentale Aspekte wie der ausgefallene Vortrag und kann damit ebenso optimal zur Grundlegung der spezielleren Themen
des heutigen Tages dienen. Darf ich Sie bitten, Dr. Veith?«
Schwerfällig und mit Verzögerung erhob sich Leonhard von seinem Sitz und ging, im Rücken den gedämpften Begrüßungsbeifall
des Saales, zum Rednerpult, wo er sein Manuskript bereitlegte und das Mikro, seiner Größe entsprechend, neu einstellte, bevor
er sich der Kraftprobe unterzog, das ihn anstarrende Publikum anzublicken. Er räusperte sich, nahm noch einen Schluck Wasser
und blickte auf sein Skript. Obenauf lagen die Gedichtzeilen, die er im Anhang seines Skripts vermutet hatte. So war also
alles
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