Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
Vom Netzwerk:
entschieden. »Ich möchte Ihnen zu Anfang einige Zeilen eines Gedichtes vorlesen«, begann er. »Sie handeln vom Geräusch
     der Meeresbrandung, und ich werde erst nachher die Beziehung dieses Textes zu meinem Thema darlegen. Hören Sie erst einmal
     zu.«
    Langsam, ohne jede Emphase, las er Zeile für Zeile:
    »Das Geräusch der Brandung:
    unvorstellbar viele Stimmen
    reden darin, doch
    keine kommt zu Wort.
    Jede erzählt ihre eigene Geschichte.
    Alle zusammen
    sind sie das Rauschen
    des immergleichen Traums.«
     
    Er machte eine kleine Pause. Im Saal herrschte eine gespannte Ruhe. Während er las, hatte er gespürt, wie eine tiefere Aufmerksamkeit
     die Zuhörer zusammenfügte. Und als ströme ihm dies als eine neue Kraft zu, hatte er sich entschlossen, das wirre Skript beiseite
     zu lassen und frei zu sprechen.
    »Ich glaube«, begann er, »daß jeder, der wie ich immer wieder, meist außerhalb der Badesaison, am Meeresstrand gewesen ist,
     die Faszination des Wellenrauschens kennt. Es ist ein Naturgeräusch, dessen betäubende Macht gerade darin besteht, daß es
     in alle Ewigkeit keinen artikulierten Sinn hervorbringen wird: kein ja und kein nein, kein gut und kein böse, kein häßlich,
     kein schön, nur das Einerlei des Rauschens. Sinn bedeutet Unterscheidung, Abgrenzung und Widerspruch. Das Rauschen ist die
     gleichförmige Monotonie des Ununterscheidbaren.
    Das Gedicht macht nun die Unterstellung, daß in diesem Rauschen zahllose, sich gegenseitig überlagernde Stimmen eingeschlossen
     sind, die etwas Eigenes zu erzählen haben, aber nie zu Wort kommen. Das hat mich, als ich es zum ersten Mal las, merkwürdig
     berührt, ich habe es aber nicht verstanden.
    Jetzt sehe ich darin zwei ineinander verschränkte Weltzustände – die elementaren Naturgeräusche, vertreten durch das Meeresrauschen,
     die mehrere Milliarden Jahre ungehört verhallt sind, bevor die Geschichte des Lebens begann, die sich nach und nach immer
     vielstimmiger in den Lockrufen, Brunstschreien und Drohlauten der verschiedenen Tierstimmen zur Geltung brachte, und dann,
     nach einem neuen Evolutionsschritt, in der menschlichen Sprache. Die Tierstimmen sind noch ganz Ausdruck und Unmittelbarkeit.
     Mit der menschlichen Sprache beginnt die Reflexion. In ihr setzen wir uns darüber auseinander, wie wir uns sehen und wer wir
     sein wollen, und was die gemeinsamen Regeln und Bedeutsamkeiten sind, mit denen wir unsere Welt als eine Insel von Sinn gegen
     das große Schweigen oder Rauschen, das uns umgibt, erhalten und erneuern können. Unsere Tagung ist ein gutes Beispiel dafür,
     daß wir unser gesellschaftliches und individuelles Leben als ein veränderliches und auch problematisches menschliches Konstrukt
     von Lebenssinn verstehen, das zu seiner Legitimation und zu seiner Neuanpassung an die veränderliche Außenwelt der ständigen
     Diskussion und Reflexion bedarf.«
    Er hatte seine Stimme sinken lassen, um anzudeuten, daß seine Vorrede beendet sei. In ihm vibrierte die Erregung seiner plötzlichen
     Inspiration, während das Publikum, geordnet in viele Reihen gleichgerichteter Gesichter, ihn reglos anstarrte. Das war die
     bange Aufmerksamkeit von Zuschauern, die einen Akrobaten beobachteten, der mit ersten tastenden Schritten ein weit gespanntes
     Seil betreten hatte, unter dem sich kein Auffangnetz befand. Er hatte zwar sein Skript vor sich liegen. Aber wenn er sich
     daran festhielt, würde er sich an eine noch unzulängliche Fassung seinesThemas binden, die er mit seinen einleitenden Worten bereits überschritten hatte. Daran wurde er jetzt gemessen.
    Weiter, dachte er, weiter.
    Dauerte die Pause schon zu lange? Oder befand er sich in einer schneller voranschreitenden Zeit als das Publikum, das sich
     bisher nicht gerührt hatte? Er blätterte die beiden ersten Seiten seines Skripts um, ohne einen Anhaltspunkt zu finden, blätterte
     weiter, merkte, daß er gar nicht las, und blickte wieder auf. Dann sprach er und hörte seine vom Mikrofon verstärkte Stimme
     einen Moment lang wie die Stimme eines anderen Redners, bis er ihren Klang einholte und mit ihr verschmolz.
    »Um es noch einmal zu wiederholen«, so hatte er begonnen –, »Kulturen und Gesellschaften möchte ich in Übereinstimmung mit
     der modernen Soziologie als Systeme verstehen, die sich ständig selbst interpretieren müssen, um zu entscheiden, was zu ihnen
     gehört und was nicht. Mein Beispiel, über das ich reden werde, ist der Strafprozeß.«
    Jetzt konnte nichts

Weitere Kostenlose Bücher