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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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zurückbegibt. Er hat es bisher vermieden,
     etwas dazu zu sagen.
    Zweimal dreht er seinen Schlüssel im Türschloß. Noch immer ist es, als schließe er eine geheime Kammer auf, in der ihn das
     vollkommen Unglaubhafte erwartet, zu dem sie oder vielmehr ihre gemeinsame, geheime Geschichte in den Tagen, in denen sie
     nichts voneinander gehört haben, wieder geworden ist. Sie ist da! Hier, wo niemand sonst sie vermutet, niemand außer ihm. Und in diesen ersten Sekunden, in denen sie sich nicht rührt, als schliefe sie wirklich, scheint
     sie keine Existenz außerhalb dieses Raumes zu haben. »Schläfst du, Anja?« fragt er.
    »Nein«, sagt sie leise mit einer flachen Stimme. Es klingt, als sei sie noch benommen in ihrer seltsamen Versunkenheit. Und
     erst jetzt dreht sie sich um und schaut ihn an.
    »Du hast mich lange warten lassen.«
    »Ja«, sagt er, »ich konnte nicht früher weg. Es gab noch eine Komplikation. Das kommt immer wieder vor.«
    »Du brauchst es mir nicht zu erzählen«, sagt sie. »Komm jetzt lieber her.«
    Während er sich über sie beugt, um sie zu küssen, haben sich ihre Lippen ein wenig geöffnet. Die Berührung, ein weicher, zuckender
     Druck, ist nur eine Andeutung von allem, was sie erwartet. Doch sie scheint sich damit genommen zu haben, was sie braucht,
     um die kurze Zeitspanne zu überdauern, die sie noch getrennt sind. Er denkt das, während er sich auszieht und dabei ihr Gesicht
     betrachtet, in dem sich die Augen wieder geschlossen haben. Ihr Mund ist immer noch leicht geöffnet und scheint voller geworden
     zu sein, als hätten sich die Lippen im Vorgefühl erwarteter Berührungen ein wenig nach außen gewölbt, ungeschminkte Lippen,
     deren feuchtes Rot sich abhebt von ihrem blassen Gesicht. Es ist ein verschwenderischer, intuitiver Mund, der einen eigentümlichen
     Kontrast bildet zu der Zartheit ihrer Augenlider, der Sanftheit ihrer Schläfe, die halb verdeckt von ihren Haaren ist. Sie
     sieht jetzt aus, als sei sie überschwemmt von einem Traum, in den sie ihn gleich hineinziehen wird.
    Gleich denkt er, gleich sind wir zusammen.
     
    Und sie? Wo ist sie? Am fremdesten Ort der Welt. Nur dort kann es geschehen. Nur dort, wo alle Verbindungen durchschnitten
     sind. Eigentlich haßt sie es, hierherzukommen. Denn sie kommt nicht zu sich, sie geht von sich weg. Sie strebt einem Außer-sich-sein
     zu, das sie spaltet, denn sie muß wieder zurück. Auch Paul stellt das nicht in Frage. Und sie hat verstanden, daß dies für
     ihn die Bedingung ist: Sie treffen sich einmal in der Woche und manchmal auch in noch weiteren Abständen für zwei, drei Stunden
     an diesem verborgenen Ort, und danach kehrt jeder in sein eigenes Leben zurück.
    Als sie aus Florida heimkehrten, noch berauscht von ihren schnellen, heftigen Umarmungen in den Dünen oder in dem ihnen manchmal
     für kurze Zeit überlassenen Haus, hatten sie beide gedacht, daß es nun zu Ende sein müsse. Und das hatten sie auch nicht grundsätzlich
     widerrufen, als sich ihnen zu Hause unerwartete und meistens riskante Gelegenheiten boten, zusammenzusein. Alles war erst
     anders geworden, seit Paul das kleine Apartment gemietet hatte, das jetzt ihr heimlicher Treffpunkt war. Im Unmöglichen war
     nun eine kleine Höhle des Möglichen eingerichtet, eine eng begrenzte Ausnahmesituation. Sie konnte nicht raus aus dieser Umklammerung
     und spürte, daß ein gebieterischer Taktschlag ihr Leben zu dirigieren begann. Sie kam, sie ging. Und mußte jedesmal, wie auf
     Zuruf, eine andere sein.
    Anfangs hatte sie gehofft, ihr alltägliches Leben besser ertragen zu können, wenn sie ab und zu eintauchte in diesen anderen
     Zustand der Selbstvergessenheit. Und für kurze Zeit hatte sie sich befreit und gestärkt gefühlt, wenn sie mit Paul zusammengewesen
     war. Doch das verflog meistens schon, wenn sie auf dem Heimweg war. Oder es brach in ihrzusammen, sobald sie im Haus Leonhards Stimme hörte. Jedesmal versuchte sie dann, sich zurechtzuweisen. Sie spürte aber nur
     ihre wachsende Gereiztheit gegen alles, was sich ihren Wünschen in den Weg stellte.
    Paul kam mit diesem Doppelleben offensichtlich besser zurecht, weil er stärker in seinem Beruf und in seiner Ehe mit Marlene
     verankert war. Sie wußte das, ohne daß sie es miteinander besprochen hatten. Er vermied solche Gespräche und zog es vor, an
     unlösbaren Problemen vorbeizuleben. Solange sie zusammen waren, schien ihnen nichts zu fehlen. Er vor allem sagte das. Die
     Leidenschaft lebe

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