Der Liebeswunsch
mehr passieren. Ruhig, mit der sonoren Sicherheit seiner wiedergefundenen Stimme, begann er den Strafprozeß
als ein Sprachspiel mit verteilten Rollen darzustellen, bei dem es darum ging, den Spielraum des erlaubten menschlichen Verhaltens
am individuellen Beispiel so gesetzestreu wie realitätsgerecht jeweils erneut zu definieren. Er beschrieb das Dialogische
und Perspektivische der Urteilsbildung als eine dynamische Entsprechung zur Komplexität des Lebens und legte dar, daß es keine
Wahrheitsquelle außerhalb dieses Verfahrens gebe. Daß vielmehr jeder Prozeß sich durch seine Umsichtigkeit und die Rationalität
seines Verfahrens selbst legitimieren müsse. Er sprach über Irrtum und Befangenheit, über unentscheidbare Fälle und die immer wieder sich ergebende Notwendigkeit von Revisionen. Aber er ließ keinen Zweifel an der grundsätzlichen
Notwendigkeit, immer wieder Urteile zu fällen. »Denn damit«, so schloß er, »bedienen wir nicht nur lebenspraktische Bedürfnisse,
sondern erneuern auch den unverzichtbaren Anspruch auf die Idee eines rechten Lebens.«
Der Beifall begann zögerlich und plätschernd, wurde dann rasch stärker, ohne daß sicher schien, daß er nicht gleich wieder
verebben würde. Mir ist es egal, dachte er, ich habe es hinter mir. Sollen sie doch denken, was sie wollen. Ich bin müde,
werde mich schlafen legen.
Jetzt sah er, daß Schorn sein höfliches Klatschen einstellte, nach vorne zu dem zweiten Mikrofon ging, sich für den interessanten
Vortrag bedankte und die Diskussion eröffnete. Alle hatten sofort aufgehört zu klatschen, aber Diskussionsbeiträge schien
es nicht zu geben.
»Will niemand den Anfang machen?« fragte Schorn.
In der dritten Reihe hob Aurich die Hand, und Schorn sagte mit betonter Liebenswürdigkeit »Bitte sehr, Herr Aurich«, und fügte
hinzu: »Nehmen Sie bitte das Mikrofon.«
Das Mikro, vom Hausmeister herbeigebracht, wurde wie das Hoheitszeichen der Sprecherwürde durch die Reihe gereicht. Aurich
blies zur Probe hinein, ohne daß etwas zu hören war. Sein Nachbar zeigte ihm den Schalter. Aurich nickte und stand auf.
Er sagte, der Vortrag habe ihn fasziniert als ein kühn und weiträumig angelegter Versuch einer Neubeschreibung des Strafprozesses,
die geeignet sei, die professionelle Engführung der juristischen Alltagsroutine aufzubrechen. Er möchte jetzt nur noch anmerken,
daß der Referent sich etwas zu pauschal auf die moderne Soziologie bezogen, genaugenommen aber deren systemtheoretische Variante gemeint habe. Im
übrigen danke er für die vielen Anregungen, die er durch den Vortrag bekommen habe.
Er setzte sich. Zwei weitere Wortmeldungen folgten, die sich auf Details bezogen und ergänzende Beispiele brachten. Die Spannung
stieg erst wieder, als sich Hecker meldete, ein Universitätsdozent aus Münster und gefürchteter Diskussionsredner. Er könne
dem Kollegen Aurich nur zustimmen, daß der Vortrag der Versuch einer Neubeschreibung des Strafprozesses gewesen sei. Auch
er habe das Oszillieren zwischen Poesie, Anthropologie und Informationstheorie genossen, mit dem der Referent wie ein brillant
improvisierender Klavierspieler das Plenum unterhalten habe. Er wolle trotzdem so uncharmant sein, die Frage nach dem Ertrag
zu stellen. Ein Versuch einer Neubeschreibung sei es gewesen, aber habe er auch Neues gebracht? Er selbst habe nur ein modern
inszeniertes konservatives Ordnungsdenken entdecken können, das sich zum Schluß in der kalenderspruchreifen Formel von der
Idee des rechten Lebens zu erkennen gegeben habe.
Schweigen folgte. Schorn forderte zu weiteren Wortmeldungen auf, aber niemand meldete sich. Schließlich fragte er:
»Möchten Sie noch etwas sagen, Dr. Veith?«
»Eigentlich nicht«, sagte er. »Außer daß es mich sehr ehrt, mit einem brillant improvisierenden Klavierspieler verglichen
worden zu sein. Das war nämlich ein Jugendtraum von mir, der sich leider nicht erfüllt hat.«
Er löste Gelächter und großen Beifall aus, und Schorn sagte zum Abschluß: »Sehen Sie, Herr Veith, man soll dieTräume nie aufgeben, dann erfüllen sie sich schließlich noch auf andere Weise.«
Dann bat er die Teilnehmer zu einer verlängerten Kaffeepause in den Vorraum.
Leonhard stand dort mit seiner Kaffeetasse, umgeben von bekannten und unbekannten Kollegen, die ihm Komplimente machten. Auch
Schorn kam und sagte: »Wir haben glücklicherweise alles auf Tonband. Das wird ein ganz wichtiger Beitrag
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