Der Liebeswunsch
gewichtslosen Hand seine Brustmuskeln betastet hatte,
als überprüfe sie beiläufig, mit der unbewußten Neugier ihrer Hand, deren Form und Festigkeit. Die scheinbare Achtlosigkeit
ihrer Berührungen hatte lustvolle Empfindungen in ihm geweckt, die wie ein um sich greifender Schwelbrand seinen ganzen Körper
durchströmten. Noch als sein Atem sich vernehmlich zu ändern begann, hatte sie weiter so getan, als bemerke sie nicht, was
sie in ihm auslöste, und war ihm leichthin und immer noch wie gedankenverloren mit Lippen und Zunge über die Wange, den Mundwinkel
und das Ohr gefahren, bis sie sich plötzlich wie in einem einzigen Impuls einander zugedreht und sich gegenseitig umschlungen
hatten.
Die Art, wie Anja ihn berührte und küßte, unterschied sich von den Zärtlichkeiten der meisten anderen Frauen, die er gekannt
hatte. Es kam ihm manchmal so vor, als schriebe sie etwas in ihn ein – einen fundamentalen Text, in dem geschrieben stand, wer er war und wer er sein konnte, dessen Geheimschrift aber nur sie lesen konnte und der ohne sie erlöschen mußte.
Auch mit anderen Frauen hatte es intime Geheimnisse gegeben. Sie erschienen ihm aber, wenn er sich zu erinnern versuchte,
als Bestandteile eines einzigen konventionellen Repertoires. Das mochte damit zusammenhängen, daß es an Gefühle keine verläßlichen
Erinnerungen gab, so daß die Frauen in seinem Gedächtnis allmählich einander ähnlicher geworden waren, obwohl es damals immer
Gründe gegeben hatte, von einer zur anderen zu wechseln. An seine erste Frau hatte er so gut wie keine intimen Erinnerungen
mehr, als habe sich die Ehe, aus der zwei Kinder hervorgegangen waren, in einem körperlosen Schattenreich abgespielt. Und
auch seine und Marlenes ehemals stürmischen Zärtlichkeiten hatten inzwischen etwas Formelhaftes bekommen. Manchmal erschienen
sie ihm wie Zitate aus den Gründungsjahren ihrer Ehe, die jetzt vor allem dazu dienten, die gewohnten Vorgänge abzukürzen.
Ihre immer noch bestehende Vertrautheit war in der eingespielten Alltäglichkeit ihres gemeinsamen, gut eingerichteten Lebens
begründet. Sie kannten die Vorteile, die es ihnen brachte, daß sie zusammenhielten.
Mit Anja verhielt es sich anders, geradezu umgekehrt. Außer den gemeinsamen Unternehmungen zu viert hatten sie keine alltäglichen
Gemeinsamkeiten. Sie waren ein Paar, das sich für kurze Zeit aus allem löste und in der Selbstvergessenheit suchte und fand.
Danach hatte sich für ihn der alltägliche Abstand jedesmal wieder hergestellt, und er war in die vertrauten Gewohnheiten seiner
Ehe und seines Berufes zurückgekehrt.
Wurde ihm jetzt vielleicht die Frage gestellt, worauf er verzichten könne? Er war darauf nicht vorbereitet. Zwarhatte er sich manchmal gesagt, daß es so nicht weitergehe, doch er hatte stets versucht, eine Entscheidung zu vermeiden. Inzwischen
mußte er sich eingestehen, daß er bis auf den Grund gespalten war.
Er blickte auf die Uhr. Es war nicht wahrscheinlich, daß Marlene innerhalb der nächsten Stunde nach Hause kam, aber er wollte
dann auf jeden Fall fort sein. Frühstücken konnte er auch in der Klinik.
Noch hatte er keine Vorstellung, was Marlene wußte. Es sah aber nicht so aus, als habe sie nur einen Verdacht, den er noch
widerlegen konnte. Allenfalls konnte er versuchen, alles etwas harmloser darzustellen, als es tatsächlich war. Oder verhielt
es sich sogar umgekehrt, daß letzten Endes alles so war, wie man es darstellte?
Er wollte gerade aus dem Haus gehen, als in der Diele das Telefon klingelte. War das vielleicht Marlene, die ihm etwas sagen
wollte, zum Beispiel, wann sie nach Hause kam? Oder war sie auf Versöhnung aus? Einen Augenblick war er unschlüssig, was er
tun sollte, dann ging er zurück.
»Ja bitte?« sagte er.
»Bist du noch allein?« flüsterte Anja.
»Im Augenblick ja. Ich wollte gerade in die Klinik fahren.«
»Wie gut, daß ich dich noch erreicht habe. Weißt du noch, daß ich dich liebe?«
»Was für eine Frage am frühen Morgen!«
»Mach nicht deine blödsinnigen Kommentare. Sag lieber ja.«
»Ja«, sagte er.
»Was: ja?« fragte sie.
»Ja heißt ja.«
Er merkte an ihrem Verstummen, daß sie nicht bereit war, auf seine Neckereien einzugehen, und fragte: »Was ist los, Anja?
Du wirkst so angespannt. Ist Leonhard in der Nähe?«
»Nein, ich bin alleine. Leonhard hat Daniel zu meiner Mutter gebracht und ist anschließend ins Gericht gefahren.« »Und du
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