Der Liebeswunsch
bist im Bett geblieben, nehme ich an.«
»Ja, ich konnte nicht aufstehen. Nicht bevor Leonhard mit Daniel aus dem Haus war. Jetzt sitze ich hier im Sessel, immer noch
im Nachthemd, weil ich keine Lust habe, mich anzuziehen. Ich sehne mich nach dir.«
»Gib auf dich acht«, sagte er. »Mach dich nicht selbst verrückt.«
»Manchmal denke ich, du weißt gar nichts über mich«, sagte sie. »Das macht mich nicht gerade glücklich. Ich muß dir etwas
sagen, was mir angst macht. In letzter Zeit habe ich manchmal, wenn ich bei dir war, die Zwangsvorstellung, daß ich Leonhard
schlagen werde, wenn er wagt mich anzufassen. Ich könnte es einfach nicht ertragen. Ich atme schon nicht mehr richtig, wenn
er in meine Nähe kommt. Wenn ich dann mit dir sprechen könnte, wäre das eine Erleichterung. Aber ich weiß ja meistens nicht,
wie ich dich erreichen soll.«
»Das ist auch für mich nicht einfach«, sagte er. »Wie war es denn gestern abend? Hattet ihr Streit?«
»Nur zu Anfang, weil ich etwas trinken wollte, um mich zu entspannen. Danach hat er sich um Verständigung bemüht. Es war eine
seiner üblichen Nummern – die große verständnisvolle Belehrung eines reifen, älteren Mannes für seine unreife Frau. Ich wäre
am liebsten weggelaufen.«
»Sei bitte vorsichtig, Anja. Steigere dich da nicht hinein. Das können wir im Moment überhaupt nicht gebrauchen.«
»Wieso im Moment?« fragte sie.
Er zögerte sie einzuweihen, weil sie offenbar in einem Zustand war, der sie unberechenbar machte. Aber er hatte ja schon begonnen,
sie zu informieren, und konnte nicht mehr zurück. Es war vermutlich auch besser so.
»Marlene ist uns auf die Spur gekommen«, sagte er.
Es entstand eine lange Pause, bevor sie fragte: »Woher weißt du das? Hat sie es dir gesagt?«
»Nein, gestern, als ich nach Hause kam, habe ich einen Zettel von ihr gefunden. Aus dem geht hervor, daß sie es schon länger
weiß. Heute abend werde ich mit ihr darüber reden müssen.«
»Hast du Angst davor?« fragte sie.
Er glaubte herauszuhören, daß sie ihm sagen wollte, sie selbst habe keine Angst. Doch das konnte eigentlich nicht stimmen
bei ihrer Abhängigkeit und dem Respekt, den sie vor Marlene hatte.
»Ich bin ratlos«, sagte er. »Ich habe auch nicht die geringste Ahnung, was Marlene sagen wird.«
»Das ist doch nicht schwer zu erraten«, sagte sie. »Sie will dich natürlich behalten. Und sie wird verlangen, daß du mit mir
Schluß machst. Und dann werden die Zügel angezogen.«
Der mißgünstige, höhnische Tonfall alarmierte ihn. Das hatte sich angehört wie unterdrückter Haß, und er glaubte, Marlene
dagegen verteidigen zu müssen. Doch das würde Anja nur reizen.
»Vielleicht hast du recht«, sagte er matt.
»Und du? Was denkst du?«
»Ich sagte doch: Ich bin ratlos.«
Sie schwieg, als habe seine Ratlosigkeit auch sie ergriffen. Doch als sie weitersprach, klang ihre Stimme ruhig und vernünftig wie die einer erfahrenen Beraterin, die keinen Zweifel daran hatte, daß sie sich im Grunde einig waren und dasselbe
wollten.
»Liebster«, sagte sie, »du kannst nicht unvorbereitet in dieses Gespräch gehen. Dazu ist es viel zu wichtig. Es entscheidet
über unser weiteres Leben. Vielleicht bekommen wir plötzlich eine Chance.«
Das verschlug ihm die Sprache. Zwar hatten sie manchmal davon phantasiert, wie wunderbar es wäre, immer zusammenzusein, doch
er hatte stets durchblicken lassen, daß das für ihn Gedankenspielereien waren. Anscheinend hatte sie das überhört oder inzwischen
vergessen. Und nun, da er ihr gesagt hatte, daß Marlene alles wußte, sah sie offenbar keinen Grund mehr, ihre Wünsche zu verleugnen.
Wie sollte er darauf reagieren, ohne zu wissen, was er eigentlich wollte?
Er schaute sich um. Dies war das Haus, in dem er seit vielen Jahren mit Marlene lebte, ihr Haus, in das sie ihn aufgenommen
hatte. Für ihn war sie hier in allen Gegenständen anwesend, und er hatte keinen Zweifel, daß es ihr mit ihm seit langer Zeit
genauso ging. Dies hier war ihr gemeinsamer Ort, und Anjas Stimme an seinem Ohr kam ihm wie eine unerlaubte Einmischung vor.
»Du siehst auf einmal alles sehr einseitig«, sagte er. »Es geht doch nicht alleine um uns.«
»Ich weiß, ich weiß«, antwortete sie. »Schon seit langem sage ich mir, daß ich endlich mit Leonhard sprechen muß. Ich habe
nur Angst, daß ich Daniel verliere, wenn ich Leonhard verlasse. Das hat mich bis jetzt gelähmt, mit Leonhard zu
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