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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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sprechen.«
    »Du willst Leonhard verlassen?«
    »Ja. Ich werde es ihm heute abend sagen.«
    Er hatte den Eindruck, daß sie sich erst im Augenblick, da sie es sagte, dazu entschlossen hatte und nun nicht mehr davon
     abzubringen war. Er hörte einen Triumph in ihrer Stimme und mußte an den Jubelschrei einer Läuferin denken, die mit hochgerissenen
     Armen über die Ziellinie rannte und ihm taumelnd entgegenkam, damit er sie auffing. Es war nur noch eine automatische Abwehrbewegung,
     daß er sagte: »Überleg dir das bitte und fahr nicht einfach alles gegen die Wand.«
    »Ich habe alles überlegt«, antwortete sie ruhig. »Viel zu lange habe ich das getan. Ich habe mir immer wieder gesagt, es komme
     nicht auf meine Gefühle an. Ich bin zum Gehorsam erzogen worden und zur Dankbarkeit. Dankbar sein für das Falsche: Dafür bin
     ich immer von meiner Mutter gelobt worden. Und ich habe mich zufriedengegeben mit diesem falschen Lob, weil ich kein anderes
     bekam. Auch du hast alles getan, um mich in meinem kaputten Leben einzusperren.«
    »Weil es unverantwortlich wäre, alles einzureißen, ganz egal, was das für die anderen bedeutet.«
    »Ach, ausgerechnet du mußt mir das sagen! Du hast doch selbst eine Frau mit zwei Kindern verlassen. Und Marlene, die kluge
     und gerechte Marlene, ist Hals über Kopf von Leonhard zu dir übergelaufen.«
    »Das macht es jetzt aber keinesfalls leichter«, wandte er ein, mit einer Stimme, die zugab, daß es ein schwaches Argument
     war.
    »Ja, es ist nicht leicht«, sagte sie. »Wie kannst du erwarten, daß es leicht ist. Aber man muß auch wissen, was es kostet,
     es nicht zu tun. Es gibt Augenblicke im Leben, die man nicht verpassen darf.«
    »Was macht dich eigentlich so verdammt sicher?« fragte er.
    »Ich bin gar nicht immer sicher«, sagte sie. »Ich habe oft schreckliche Angst, daß ich ins Leere laufe, wie ich es manchmal
     träume. Ich irre zwischen hohen Mauern herum und komme nirgends an. Glaubst du, daß Träume etwas bedeuten?«
    »Kann sein. Aber das meiste ist wohl nur Seelenmüll.«
    Sie schwieg, als habe sie sich wieder in ihren Alptraum verloren. Doch in einem ihrer raschen Stimmungswechsel, auf die er
     sich nicht einstellen konnte, wandte sie sich ihm wieder zu.
    »Warum bist du so still? Denkst du nach?«
    »So kann man es nicht nennen. Ich komme keinen Schritt weiter.«
    Beruhigend, als vertraue sie ihm etwas von ihrem geheimen und überlegenen Wissen an, sagte sie: »Wir sind schon viel weiter,
     als du glaubst.«
    Vielleicht hat sie recht, dachte er. Was war, wenn sie recht hatte? Gab es etwas, das er mehr fürchten mußte?
    Wieder hörte er ihre verschwörerische Einflüsterung: »Wenn wir jetzt Mut haben, können wir alles gewinnen«, sagte sie, und
     ein verworrenes, mit Neugier durchmischtes Gefühl beschlich ihn, alles sei schon in unaufhaltsamer Veränderung, nicht nur
     die gewohnten, bisher für sicher gehaltenen Umstände seines Lebens, sondern auch er selbst. Und mit der erstaunlichen Intuition,
     mit der sie oft zu spüren schien, was in ihm vorging, sagte sie leise, wie dicht an seinem Ohr, »hallo, mein Liebling« und
     machte das spielerische Kußgeräusch – ein Fiepen und Zischen von mit gekräuselten Lippen eingesogener Luft, mit dem sie ihn
     manchmal, wenn sie sich gegenüberstanden, herausforderte. Es war ein Laut zärtlichen Einverständnisses, mit dem sie ihn an frühere
     Küsse erinnerte und neue versprach und so einen Augenblick der Gewißheit schuf, in dem sie sich nur anschauten. Wieder hörte
     er das Lippengeräusch, diesmal heftiger als ein kurzes Schmatzen, und er glaubte zu sehen, wie sich ihr Mund dabei öffnete
     und wieder schloß. Es war ein zeitlupenhaftes Bild in dem Nebel seiner Benommenheit, aus der ihn gleich danach die unerwartete
     Sachlichkeit ihrer Stimme aufschreckte: »Wir müssen uns unbedingt noch sehen, bevor du mit Marlene sprichst.«
    »Das ist nicht möglich«, sagte er.
    »Warum nicht? Ich warte am Nachmittag in unserem Zimmer auf dich, und du kommst, sobald du kannst.«
    »Und wozu soll das gut sein?«
    »Wir müssen uns noch einmal fest in die Arme nehmen, damit du weißt, was für uns auf dem Spiel steht.«
    »Entschuldige, das möchte ich nicht.«
    »Wieso nicht?« fragte sie erschrocken.
    »Ich möchte nicht von dir aus direkt zu diesem Gespräch mit Marlene gehen. Du verstehst das vielleicht nicht. Aber respektier
     das bitte.«
    Plötzlich war Panik in ihrer Stimme.
    »Dann muß ich dich jetzt noch

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