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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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fühlte er sich in dem großen Gebäude immer noch als Gast, besonders wenn er am späten Abend allein
     nach Hause kam, wie jetzt. Um vorzutäuschen, daß es nicht leer stand, hatte Marlene ein Nachtlicht brennen lassen, eine matte,
     geisterhafte Beleuchtung, die wohl kaum einen Einbrecher abschreckte. Doch es gab auch noch eine Alarmanlage. Er schloß auf
     und trat durch die Diele in den großen Wohnraum und schaltete die Deckenbeleuchtung an. Mitten auf dem Teppich fand er ein
     weißes Blatt Papier, auf das Marlene in großen Druckbuchstaben geschrieben hatte:
    WIE LANGE WILLST DU MICH NOCH BETRÜGEN?

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    12
Risse
    In dem Moment, da er Marlenes Frage las, die ja vor allem die Mitteilung enthielt, daß sie schon seit einiger Zeit von seiner
     Beziehung zu Anja wußte, war Paul geschützt durch seine Müdigkeit und unfähig zu erschrecken. Es kam ihm sogar so vor, als
     würde die Spannung, in der er sich seit der Floridareise befand, vermindert und Marlene böte ihm eine neue Chance, aus seinen
     Widersprüchen herauszufinden.
    Er blickte auf das Blatt mit Marlenes großer schwarzer Schrift, der er trotz ihrer plakativen Klarheit ansehen konnte, wie
     erregt sie gewesen war, als sie ihm diese provozierende Frage stellte. Es war eine ungewöhnlich pathetische Handlung für sie,
     wahrscheinlich ein Augenblicksimpuls, weil sie vergeblich auf ihn gewartet hatte, bevor sie zu ihrem Nachtdienst ins Krankenhaus
     mußte. Es war gut, wenn noch etwas Zeit verging, bevor sie miteinander redeten. Obwohl er morgen erst um zehn im Operationssaal
     sein mußte, wollte er es so einrichten, daß er schon weg war, wenn sie von ihrem Dienst nach Hause kam.
    Er faltete das Blatt und schob es in die Innentasche seiner Jacke, ging dann nach oben, um sich auszuziehen, zu waschen und
     ins Bett zu legen, alles mit einer unveränderlichen Routine, die ihm das Gefühl gab, daß das Leben so oder so weiterging:
     mit Marlene, ohne Marlene, vielleichtsogar mit Anja oder allein. Von allem fühlte er sich gleich weit entfernt.
     
    Er lag einige Minuten auf dem Rücken und ließ die Szenen des Tages an sich vorbeiziehen. Aber alles blieb flüchtig und blaß,
     und als er sich auf die Seite drehte, schlief er sofort ein. Gegen Morgen wurde er wach, schwer vor Müdigkeit in der Vorstellung,
     daß er aufstehen müsse. Dann erkannte er neben sich auf dem Nachttisch die Leuchtzeiger seines Weckers, die auf halb fünf
     zeigten, und schlief wieder ein. In wechselnden Traumszenen, die in einer Folge von engen, aber unüberschaubaren Räumen stattfanden,
     drängte sich ihm eine Frau auf, die er nicht kannte. Anja war es nicht, eher Sibylle, die das Kommando zu übernehmen trachtete
     und ohne Rücksicht auf alle anderen, die als Schattengestalten im Hintergrund zusahen, seine Auslieferung an Untreue und Verrat
     verlangte, was ihn außerordentlich erregte. Mehrmals boten sie den Zuschauern, die er nur ahnte und nie zu sehen bekam, das
     Schauspiel einer schwierigen, immer unzulänglichen Vereinigung. Dann verging alles, ohne daß es zu einem Abschluß kam, und
     er wurde wach. Es war kurz vor halb acht, Zeit für ihn aufzustehen. Kurz danach klingelte sein Wecker.
    Wie immer begann er den Tag mit einer Reihe von gymnastischen Übungen und einem Hanteltraining und ging dann unter die Dusche.
     Fit zu sein, war seine erste Lebensregel und die einzige, an die er sich zuverlässig hielt. Er brauchte das als Operateur.
     Der Blick, mit dem er morgens nach dem Training seinen muskulösen Körper betrachtete, diente vor allem seiner Selbstvergewisserung.
     Er sah heute nicht anders aus als vor zehn Jahren, vom Gesicht einmalabgesehen, das eher gewonnen hatte, wie er fand. Sein dunkles, immer noch dichtes Haar war leicht gewellt und so fest, daß
     es sich mit wenigen Bürstenstrichen in Form bringen ließ. Seine Stirn über den kräftigen Augenbrauen war breit und drückte
     Energie aus, und im Kinn hatte er ein kleines Grübchen, was, wie er wußte, viele Frauen anziehend fanden. Einige allerdings
     nicht, weil sie es zusammen mit seiner dunklen, rauhen Stimme für ein Zeichen von Aggressivität hielten. Dabei mochte er es,
     wenn Frauen die Initiative ergriffen und ihn herausforderten und verwöhnten, bis das Spiel sich dann plötzlich drehte.
    Während er sich rasierte und mit den Fingerspitzen die Glätte seiner Haut prüfte, erinnerte er sich daran, wie Anja, neben
     ihm liegend und eng an seine Seite geschmiegt, mit ihrer zarten, fast

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