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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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muß sowieso jetzt gehen. War keine gute Idee, hierherzukommen.«
    »Haßt du mich jetzt?« fragte sie.
    »Nein, das nicht«, sagte er, ohne sie anzusehen.
    »Ich habe den Brief dabei, den ich dir gestern abend geschrieben habe. Willst du ihn noch haben?«
    »Ja, gib ihn mir. Ich lese ihn später.«
    Sie kramte aus ihrer kleinen Handtasche einen Umschlag hervor, und er steckte ihn in seine Jackentasche.
    Beide schwiegen sie. Dann sagte sie leise: »Du willst dich also heute abend mit Marlene versöhnen, nehme ich an?«
    »Nein, ich hab's dir doch gesagt. Ich weiß nicht, was ich will.«
    »Wenn du dich heute nicht entscheiden kannst, werde ich auf dich warten«, sagte sie.
    »Gut«, sagte er. »Und sei vernünftig. Tu nichts Unüberlegtes.«
    »Ich werde ganz fest an dich denken. Und vielleicht versuchst du das auch.«
    Er antwortete nicht. Sie streckte die Hand aus und berührte seine Schulter, ohne daß er reagierte.
    »Ich muß jetzt los«, sagte er.
    »Ich bin immer für dich da«, sagte sie leise. Dann stieg sie aus.
    Als er den Wagen startete und zurücksetzte, um zu seinem Stellplatz auf dem Ärzteparkplatz zu fahren, stand sie noch da und
     winkte. Vielleicht bildete er sich das ein – aber ihr Gesicht sah aus wie zerrissen von einem in ihr sitzenden tiefen Schrecken.
     Am Rand seines Blickfeldes glitt sie vorbei.
     
    Es blieb ihm noch eine Viertelstunde, um in der Kantine etwas zu frühstücken. Vielleicht hätte er sich nach einem guten Frühstück
     weniger aufgeregt. Zwei schwere Operationen standen ihm heute bevor, und es war höchste Zeit, daß er sich sammelte und ruhig
     wurde. Marlene war vielleicht schon zu Hause. Ja, er hatte »zu Hause« gedacht.
    Das war jetzt nicht wichtig. Marlene las seine Antwort, und wahrscheinlich legte sie sich hin, um einige Stunden zu schlafen.
     Anja war in ihren Polo gestiegen und ebenfalls nach Hause gefahren oder zum Funk. Es war jetzt nicht wichtig. Er aß eine Salamisemmel,
     löffelte seinen Joghurt, trank zwei Tassen Kaffee und aß eine Banane, die schon ziemlich fleckig war. Es war jetzt nicht wichtig.
     In einer Viertelstunde begann die erste Operation. Es handelte sich um einen 55jährigen Mann, der vor vier Tagen mit schwerer
     Gelbsucht und Schmerzen im Oberbauch eingeliefert worden war und bei dem man ein Karzinom im Hauptgang der Bauchspeicheldrüse
     festgestellt hatte. Das bedeutete allerWahrscheinlichkeit nach, daß eine Totalresektion des Pankreas, samt Zwölffingerdarm, Milz, Gallenblase und einer Teilresektion
     des Magens, unvermeidlich war, die weiträumige Entfernung der Lymphdrüsen natürlich eingeschlossen. Das war ein brutales Programm
     von gut vier Stunden Arbeit mit vielen abzuklemmenden Gefäßen, durchtrennten Nervenbahnen und wahrscheinlichen Verwachsungen
     des Bauchfells, die vorsichtig gelöst werden mußten. Zum Schluß mußten Restmagen und Lebergang mit dem Dünndarm verbunden,
     Wundränder vernäht und Drainageschläuche gelegt werden – das alles bei einer Überlebensrate von 15 Prozent. Aber jeder hatte
     nur ein Leben – Grund genug, darum zu kämpfen, wenn es auch nur um wenige Jahre mit schwersten Beeinträchtigungen ging. Das
     war jedenfalls die geltende Moral, und er war ein technischer Spezialist in ihrem Dienste. Er hatte keinen Anlaß, an dieser
     Rolle zu zweifeln.
    Als er aufstand, verspannte sich sein Rücken. Das fehlt mir jetzt noch, dachte er, und eine Welle von Erbitterung schwappte
     in ihm hoch. Das kam alles von dem Streß, den er heute morgen hatte. Anja war einfach nicht zu bremsen gewesen, so deutlich
     er ihr auch gesagt hatte, daß er jetzt keine Auseinandersetzungen und keine leidenschaftlichen Beteuerungen gebrauchen konnte.
     Das jedenfalls wäre ihm mit Marlene nicht passiert. Vorsichtig reckte er sich und stützte mit beiden Händen seinen Rücken,
     bevor er ging. Ich muß diesen Tag überstehen und dann alles in Ordnung bringen, sagte er sich.
     
    Im Aufzug traf er Dr. Ricken, seinen ersten Assistenten, der ihm am Operationstisch gegenüberstehen würde. Rickenwar ein zuverlässiger Arzt, der bei ihm gelernt hatte und inzwischen auch selbständig operierte. Leider hatte er die Angewohnheit,
     immer auf die letzte Minute zu kommen. Früher hatte er dazu schon mal eine kritische Bemerkung gemacht, aber inzwischen ließ
     er das. Gemeinsam traten sie in den Vorraum, wo sie die Hose und das kurzärmelige dunkelgrüne Hemd ihrer sterilen Operationskluft
     anzogen und mit der sorgfältigen Waschung

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