Der Liebeswunsch
und Desinfektion ihrer Hände und Unterarme begannen. Er richtete es so ein, daß
Ricken vor ihm fertig war und vor ihm durch die Schleuse ging. Alle standen schon in ihren Positionen am Tisch, als er als
letzter kam und ihm die Operationsschwester in den Kittel half, den sie in seinem Rücken zuknöpfte, bevor sie ihm einzeln
die bräunlichen Latexhandschuhe hinhielt, damit er seine Hände hineinschieben konnte. Er bewegte seine Finger, letzte Probe,
daß er gerüstet war, und trat mit einem kurzen Gruß an den Tisch, auf dem der Patient lag. Sein Kopf, neben dem der Anästhesist
saß, war hinter einer Sichtblende verborgen. Von dem mit sterilen Tüchern bedeckten Körper war nur das freigelassene Operationsfeld
des Bauches zu sehen. Kurz und gewohnheitsmäßig betastete er die entspannte Muskulatur. Es war eigentlich überflüssig, aber
er empfand es als eine Begrüßung des Patienten, der ihm in den nächsten Stunden anvertraut war. Dann ließ er sich das Skalpell
geben und zog quer über den Oberbauch einen tiefen Schnitt durch die Bauchdecke. Aus den Wundrändern quoll ein wenig Blut,
das sofort weggetupft wurde. Beide Assistenten und die zweite OP-Schwester zogen mit Wundhaken die Bauchdecke auseinander.
Er schnitt nach und legte das Bauchfell frei, das Verwachsungen zeigte. Jetzt brauchte er vor allem Geduld. Abwechselnd ließ
ersich Skalpell und Schere geben und begann das Bauchfell zu lösen. Ohne aufzublicken, sagte er: »Der Patient bewegt sich«,
und der Anästhesist machte sich am Perfusor zu schaffen. Ein kurzer Signalton zeigte die neue Dosierung an. Er blickte kurz
auf den Überwachungsmonitor: Puls und Blutdruck waren normal. Stück für Stück schob er das gelöste Bauchfell hoch, und dann
blickten sie in die feuchte Tiefe des Bauchraumes mit seinen dunkelbraunen, grünen und gelb-rosa gefärbten Organen. Der Pankreaskopf
war sichtlich verformt durch die Geschwulst. »Da haben wir die Bescherung«, sagte er.
»Wollen wir noch Schnellschnitte vom Lymphgewebe machen?« fragte Ricken.
»Eigentlich nicht nötig«, sagte er. »So wie es aussieht, müssen wir den halben Laden leerräumen, wenn der Mann noch eine Chance
haben soll.«
Es war kurz nach 18 Uhr, als Paul nach seiner zweiten Operation, der Anlage eines Anus praeter nach Mastdarmresektion bei
einer sechzigjährigen Frau, den OP verließ und auf der Station den Kollegen Kurt Lemmert traf, der braungebrannt von seinem
Urlaub auf Rhodos zurückgekommen war und heute Nachtdienst hatte. Er fragte, wie es gewesen sei, lobte, wie gut Lemmert aussähe,
ließ sich etwas über das Hotel, den Strand und die historischen Sehenswürdigkeiten der Insel erzählen und nahm einen Gruß
an Marlene mit. Lemmert war ein umgänglicher Kollege. Und es war immer wichtig, etwas für die guten Beziehungen innerhalb
der Abteilung zu tun. Aber das freundliche kollegiale Geplauder war ihm diesmal schwergefallen, weil er sich erschöpft und
zerstreut fühlte.
Als er in sein Auto stieg, um nach Hause zu fahren, mußte er daran denken, wie er Anja zurückgestoßen und aus dem Wagen vertrieben
hatte. Das war für sie eine brutale Verstoßung gewesen. Er hatte es ihrem Gesicht angesehen, als er an ihr vorbeigefahren
war. Es war nicht auszuschließen, daß sie jetzt durchdrehte und irgend etwas anstellte. Wahrscheinlich machte sie ihre Absicht
wahr und erklärte Leonhard, daß sie ihn verlassen wolle. Als sie heute morgen telefonierten, war das ihre Phantasie gewesen:
Alles sollte auf den Tisch kommen, damit alles sich änderte. Das war es, was sie als ihre Chance sah. Es war nicht auszudenken,
wie Leonhard und Marlene reagieren würden. Irgendwo hatte er gelesen, daß die meisten Menschen unfähig seien, eine langsam
sich anbahnende Katastrophe zu erkennen. Das Beispiel, das der Autor brachte, war ein Frosch, der in einem Kochtopf mit Wasser
schwimmt, das langsam erhitzt wird. Biologisch hat der Frosch nicht die Fähigkeit entwickelt, langsame Temperaturveränderungen
zu bemerken, weil das in seiner natürlichen Umgebung nicht von lebenserhaltender Bedeutung ist. Also schwimmt er weiter, bis
er gekocht ist. So war es ihnen auch ergangen. Leonhard war so ein Frosch. Ein häßlicher, dicker, alter Frosch, der mit stoischer
Geduld in seinem Kessel schwamm. Er selbst war aber auch in einen solchen Kessel geplumpst, als er das Apartment mietete,
in dem er sich mit Anja traf. Mit Marlene verhielt es sich
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