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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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Nebenzimmer trat, in der
     Mitte stehenblieb und wieder kehrtmachte. Ein junges Mädchen im Nebenhaus, das einen Fensterflügel öffnete und in beide Richtungen
     auf die Straße blickte und sich dann umdrehte, weil eine Person ins Zimmer getreten war und etwas zu ihr sagte, bevor sie
     wieder verschwand. Alle bewegten sich in gespenstischer Sicherheit und schienen von Augenblick zu Augenblick das zu sein,
     was sie taten, während sie selbst, die Beobachterin, einen Schritt hinter ihrem schmutzigen Fenster stehend, sich allmählich
     abhandenkam, bis sie einen Arm ausstreckte und mit einem Ruck den Vorhang schloß. Da war sie wieder, allein in dem kargen Zimmer mit
     dem zugedeckten Bett, auf dem die abgeschabte graue Wolldecke lag. Paul war nicht gekommen. Wahrscheinlich war er mit Marlene
     in eine Auseinandersetzung geraten, die noch andauerte. Er hatte sie gebeten, erst nachher mit Leonhard zu reden. Nun konnte
     sie nicht mehr nach Hause fahren, weil sie nicht erklären konnte, wo sie so lange geblieben war. Und auch, weil sie getrunken
     hatte, um sich zu beruhigen. Sie war nicht betrunken. Dazu war sie zu aufgeregt. Hatte Paul vielleicht vergessen, daß sie
     hier wartete? Hatte er sie falsch verstanden? Oder hatte sie es nicht gesagt? Dauernd kam ihr das große Haus aus dunklen glasierten
     Klinkern mit den weißen Sprossenfenstern der Vorderfront vor Augen, in dem Paul und Marlene jetzt miteinander sprachen. Als
     sie das Haus zum ersten Mal gesehen hatte, war es ihr wie eine Festung erschienen. So kam es ihr jetzt wieder vor – bedrückend
     in seiner Mächtigkeit, seiner Symmetrie und seiner gediegenen Eleganz – so recht ein Ort, wo über Besitztümer, alte Rechte
     und die Vorzüge eingelebter Gewohnheiten gesprochen wurde, ein Ort, wie geschaffen für Pauls Selbstaufgabe, wo jetzt beschlossen
     wurde, daß er sie verwerfen mußte.
    Nein, so durfte sie nicht denken! Sie mußte sich innerlich dagegen anstemmen.
    Auf der Straße waren laute, streitende Stimmen junger Männer zu hören, die aus einer Gastwirtschaft kamen. Eine andere, gesetzte
     Stimme versuchte sie zu beruhigen, und allmählich entfernten sie sich. Das Haus war still, als sei sie dessen einzige Bewohnerin
     oder als habe ihr Warten ringsum alles Leben gelähmt. Paul würde auch mitten in derNacht kommen, wenn sich alles zu ihren Gunsten entschieden hatte. Bis dahin wollte sie warten und an ihn denken. Sie wollte
     ihm einen langen Brief schreiben, in der Hoffnung, daß ihre Gedanken, die sie dem Briefblock anvertraute, ihn auf geheimnisvolle
     Weise erreichten. Ja, das war es, was sie tun wollte.
    »Mein Liebster«, schrieb sie, »seit Stunden warte ich in unserem Zimmer, daß Du kommst, obwohl ich längst verstanden habe,
     daß Du nicht kommen kannst, nicht jetzt, nicht heute, nicht bald. Was soll ich sagen? Was kann ich überhaupt noch tun? Ich
     kann nicht immer mit mir allein sein, denn unsere Trennung, die uns von anderen aufgezwungen wird, ist ein Irrtum. Sie ist
     wie ein schlimmer Webfehler in der Welt. Doch plötzlich, nachdem Du mich verlassen hattest und mich finstere Augenblicke lang
     denken ließest, alles sei zu Ende, hat eine unsichtbare Hand hinter meinem Rücken etwas hervorgezogen: die verrückte, unbegründete
     Hoffnung, daß Du mich liebst. Wie gut war es, Dich zu sehen, so falsch und so schmerzlich es zunächst auch schien. Dich anzusehen,
     nur Dich anzusehen, macht mich glücklich. Du bist der einzige Mensch, der mich mir selbst zurückgeben kann. Alles, was ich
     sein möchte, kann ich nur sein, wenn ich es Dir bringen darf. Als ich Dich noch nicht kannte, hast Du mir schon gefehlt. Ach,
     die kurzen Augenblicke vollkommenen Wachseins, wenn ich bei Dir bin! Nicht sie sind geträumt, sondern die langen Trennungen,
     wenn ich zitternd vor Sehnsucht in mein Bett krieche, und diese Dunkelheit frühmorgens, wenn ich wach werde, diese lichtlose
     Dämmerung, als versänke man im Tod. Oft möchte ich schreien nach Dir: Rette mich! Ich habe Angst, mir plötzlich nicht mehr
     vorstellen zu können, daß es Dichgibt. Ich wäre so gerne für Dich brauchbar. Warum greife ich in diese Leere, wenn ich Dich fühlen möchte? Ich möchte Deine
     Schritte neben mir hören und Deine Gegenwart spüren, wenn ich die Augen schließe. Sag mir: Was ist der Preis dafür? Wovon
     muß ich mich trennen, um Dich zu gewinnen. Was muß ich tun?«
    Sie schrieb und schrieb, als dürfe sie nie aufhören.

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    13
Augenblicke der Wut
    Da

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