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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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hineingestolpert und habe versucht, die
     Geschichte zu beenden, es aber wegen Anja nicht fertiggebracht.«
    Er hatte die kalte Wut in Marlenes Stimme gehört und aus Ratlosigkeit gefragt: »Und du? Was denkst du darüber?«
    Sie hatte geantwortet, alles sei bodenlos. Sie fühle sich ausgenutzt und hintergangen. Auch weil das Ganze ein so unglaublicher
     Verrat an ihrer jahrelangen Freundschaft sei. Darin fühle sie sich jetzt hineingezogen, auch ihm gegenüber. Alle Glaubwürdigkeit
     sei mit einem Mal zerstört. »Verstehe«, hatte er gesagt, immer noch in dem Gefühl, daß es eigentlich um sie ging und für ihn
     eine Geschichte am Rande war oder der Keim einer Krankheit, die anscheinend noch nicht ausgebrochen war, weil sie ihm keine
     Schmerzen machte. Er wußte, daß er sie schon lange in sich trug: die kränkende Krankheit, ein Mann zu sein, den die Frauen
     mit anderen Männern betrogen, weil in ihren Augen an ihm etwas Entscheidendes falsch und unannehmbar war. Es war ihm zum zweiten
     Mal drastisch bestätigt worden, beide Male durch denselben Mann. Das reichte, um es sich gesagt sein zu lassen. Ja, es war
     genug.
    »Was rätst du mir?« hatte er gefragt.
    »Ich kann dir genauso wenig raten wie du mir«, hatte sie geantwortet. Dann hatte sie noch hinzugefügt: »Ich werde Paul nicht
     sagen, daß ich dich informiert habe. Ich will ihm seine Probleme nicht mehr abnehmen. Ich wollte nur, daß du Bescheid weißt.«
    »Danke«, hatte er gesagt.
    Etwas später dachte er: Ich werde mich scheiden lassen. Für die Zeit bis dahin mußte er eine vorläufige Vereinbarung formulieren,
     die festlegte, daß Anja ausziehen und ihre gesamte persönliche Habe aus dem Haus entfernen müsse, Daniel aber bei ihm bleiben
     solle. Dafür wollte er ihr, bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung, ein freiwilliges monatliches Salär aussetzen.
     Er mußte sich erkundigen, was angemessen war, denn er wollte auf jeden Fall korrekt sein, gegen spätere Vorwürfe und Selbstvorwürfe
     gefeit.
    Ja, er wollte die Trennung unter allen Umständen. Bei Marlene hatte es trotz ihrer Erregung anders geklungen. Sie war offenbar
     schwer getroffen, anders als er. Das hing damit zusammen, daß er Anja nicht geliebt hatte. Seine Ehe mit ihr war ein gescheitertes
     Projekt. Nur solange er daran festgehalten hatte, konnte sie ihn verwunden. Am besten verschwand sie für immer zusammen mit
     Paul, obwohl auch das vermutlich nicht halten würde. Beide waren sie unzuverlässige Menschen mit wenig moralischer Substanz.
     Paul würde Anja verlassen, und dann würde sie zugrunde gehen – wie die amtliche Formel sagte: mit an Gewißheit grenzender
     Wahrscheinlichkeit. Er würde keinen Anlaß haben, das zu bedauern, dachte er mit leiser Rachsucht, ein Gefühl, das er sich
     genehmigte, weil er spürte, daß es ihm half. Paul war ein anderes Problem. Er war der Verführer und Betrüger, den man früher
     zum Duell herausgefordert und erschossen hätte. Jetzt hatten Leute wie er einen Freibrief für ihr Treiben, denn die Gesellschaft
     hatte sich moralisch aus diesen Bereichen des Lebens zurückgezogen und sie der Willkür und der allgemeinen Unordnung überlassen.
     Jeder durfte jeden tödlich verletzen, wenn es nicht gerade mit dem Messer oder der Pistole geschah.
    Aber er war nicht verletzt, nicht durch Anja. Es war vor allem damals durch Marlene geschehen. Und Anja war das Pflaster auf
     der Wunde gewesen, das ihm nicht geholfen hatte und das er sich nun abreißen würde als eine endgültig überwundene Täuschung.
     Nein, er hatte sie nicht geliebt, und es war nur gerecht, daß auch sie ihn nicht geliebt hatte. Es war ja sowieso nur ein
     Wort, unter dem jeder etwas anderes verstand. Was der Sinn des Wortes war, mußte man selbst herausfinden und es für sich selbst
     bewahren. Er liebte Daniel als ein zartes, empfindliches Abbild seiner selbst, was ein ziemlich egozentrischer Grund für Liebe
     war. Aber wahrscheinlich gab es keinen anderen.
     
    Schon eine Zeitlang schaute Anja zu den Häusern der anderen Straßenseite hinüber. Die meisten Fenster waren inzwischen erleuchtet,
     und hier und da konnte sie die Bewohner der Häuser sehen, die sich wie graue Schatten in den Räumen bewegten. Darsteller geheimnisvoller
     Selbstverständlichkeiten, die ihr alltägliches Leben ausmachten: ein Mann, der einen Schrank öffnete und wieder schloß und
     sich danach mit einer Hand den Nacken massierte, bevor er aus dem Zimmer ging. Eine Frau, die ins

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