Der Liebeswunsch
ihre insistierende Stimme: »Vielleicht bekommen wir jetzt eine Chance. Wir sind viel weiter, als du denkst.«
Das waren beschwörende Worte gewesen, denen er im Augenblick, gegen den Einspruch seiner Vernunft, eine magische Wirkung zutraute.
Und wie in einer nachträglichen Reaktion, spürte er wieder ihre Hand, die nach seinem Geschlecht tastete. Sie macht mich verrückt,
dachte er. Er ahnte, daß es damit zusammenhing, Marlenes Schutz verloren zu haben. Er war der Frosch im Kessel, der im immer
heißer werdenden Wasser um sein Leben schwamm.
Vor ihr stand der Aschenbecher mit den vorzeitig ausgedrückten Zigaretten, denen er die heftigen stoßenden Bewegungen ansehen
konnte, mit denen Marlene die Glut gelöscht hatte. Zwei Zimmer weiter klingelte das Telefon, under dachte flüchtig, es könne Anja sein, die es nicht aushielt zu warten, wie seine Aussprache mit Marlene verlaufen würde.
Doch es war wohl nicht Anja. Denn jetzt hörte er Marlene am Telefon sprechen, und es klang anders, als sie mit Anja gesprochen
hätte. Er konnte aber kein Wort verstehen. Alles klafft immer weiter auseinander, dachte er. Es ist ein Puzzle, in dem nichts
zusammenpaßt, weil es dafür kein Bild mehr gibt. Er war im Augenblick so müde, daß er nur mit einer Willensanstrengung sein
Bedürfnis unterdrücken konnte, sich hinzulegen. Marlene sprach noch, mit längeren Pausen, ohne daß er etwas verstand. Die
Müdigkeit leerte seinen Kopf und stülpte die Welt um – das Innere nach außen –, wie man das Taschenfutter herauszog, um zu
beweisen, daß die Tasche leer war. Es war ein Bild wie ein altes, fehlbelichtetes Foto, auf dem nur die Geste deutlich zu
sehen war: er mit beidseitig herausgezogenen leeren Taschen, umschlossen von dem hellen Nebel der Fehlbelichtung. Nein, er
hatte niemandem etwas zu bieten, weil seine Taschen leer waren, leergeräumt wie sein Kopf, den er mit Kinn und Wange in seine
leere Hand stützte. Alles verschmolz miteinander: die Einzelheiten, die Erinnerungen, die beiden Frauen. Ich bin eigentlich
immer von außen mit Gefühlen und Gedanken gefüllt worden, dachte er. Das war es, wozu ich die Menschen gebraucht habe, auch
die beiden Frauen. Sie jedoch waren sich einig, daß er zwischen ihnen wählen müsse. Das war eine Zumutung, die nicht zu ihm
paßte. Sie waren beide überzeugt, die einzig Richtige für ihn zu sein. Beide gaben sie ihm zu verstehen, daß er falsch lebte.
Aber das richtige Leben gab es vielleicht nicht.
Warum hatte Marlene nie etwas gesagt, wenn sie ihn und Anja schon so lange verdächtigt hatte? Vielleicht hatte sieangenommen, er würde alles abstreiten. Oder sie hatte es kränkend und unerträglich gefunden, überhaupt darüber zu sprechen.
Auch sie war ratlos gewesen und unschlüssig, genau wie er. War das eine Möglichkeit, das unterbrochene Gespräch wieder zu
beginnen? Und wollte er das?
Wieder überkam ihn eine Welle von Müdigkeit, die die Begriffe auflöste. Das richtig Falsche und das falsche Richtige – Strudel,
die an ihm vorbeitrieben. Dann wurde ihm bewußt, daß er Marlenes Stimme seit einer Weile nicht mehr gehört hatte, und als
er den Kopf hob, stand sie in der Tür. »Leonhard hat angerufen«, sagte sie. »Er wollte wissen, ob Anja bei uns ist. Sie ist
nämlich nicht nach Hause gekommen.«
»Dann hat sie ihm also noch nichts gesagt?«
»Nein, aber er war sehr in Sorge. Und du mußt davon ausgehen, daß er sich seine Gedanken macht.«
Er zuckte die Achseln.
»Ich finde, wir sollten jetzt etwas essen.«
»Mach dir was. Ich möchte nichts«, sagte sie.
Marlenes unerwartete Mitteilung war für Leonhard wie ein Schlag vor den Kopf gewesen, ein dumpfer Schlag, der ihn betäubte
und wanken ließ. Schmerz, Wut und Empörung würden erst später kommen. Zunächst empfand er nur Verblüffung. Marlene hatte auf
seine Frage, ob Anja vielleicht bei ihnen sei, mit einem seltsam schroffen Nein geantwortet, so daß er sich genötigt gefühlt
hatte, zu erzählen, daß sie seit dem Vormittag verschwunden sei. Darauf hatte Marlene »Auch das noch« gesagt und nach kurzem
Zögern hinzugefügt: »Ich weiß nicht, ob ich es dir sagen soll. Aber ich finde, du mußt es wissen, damit du dich darauf einstellen
kannst:Paul und Anja haben ein Verhältnis, schon seit längerer Zeit.« Weiter schien sie nichts dazu sagen zu wollen. Dann fuhr sie
doch fort: »Er ist hier nebenan. Wir haben uns gestritten. Er hat gesagt, er sei da
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