Der Liebeswunsch
ist etwas. In der Nähe. Aber sie kann sich nicht rühren. Wenn sie es nicht beachtet, wird es verschwinden. Wie das kleine
iltisartige Tier, das neben ihr aus dem Gestrüpp gekommen ist und sie angefaucht hat, ein häßliches Tier, das mit einem Mal
alle seine Haare verlor, ein räudiges nacktes Tier.
Da ist es wieder. Ein metallisches Scharren, dann ein Klopfen, das offenbar sie meint. Sie ist aber noch wie betäubt, obwohl
es heller Tag ist und das Licht vom Fenster ihre geschlossenen Augen reizt. Immerhin weiß sie jetzt, daß sie auf dem Bett
liegt, in ihren Kleidern, verschwitzt und betrunken, Grund genug, sich nicht zu rühren.
»Hallo, bist du da, Anja? Mach doch auf!«
Sie hat die Augen kurz geöffnet, das Tageslicht durch den fadenscheinigen Vorhang gesehen, und die Lider, schwer und fühllos,
sind ihr zugefallen. Sofort ist das Tier wieder da. Das fauchende Tier aus dem Gestrüpp. Es hat sich verändert. Seine Haut
– oder ist es eine künstliche Hülle besteht aus vielen kleinen, nachlässig zusammengenähten und wieder aufgerissenen Lederflicken,
und seine Augen quellen seitlich aus dem Kopf, glänzende schwarze, unaufhörlich wachsende Beeren, die Augen einer riesigen
Libelle, in denen sich alles spiegelt – sie selbst und das Zimmer, kugelrund verzerrt. Das Zimmer ist zugewuchertvon Gestrüpp, so daß sie es nicht durchqueren kann. Vielleicht ist sie tot. Liegt tot im Gestrüpp. Das ist es, was die Libelle
sieht.
Klopfen. Eine Stimme. Ja, ich bin da. Ich liege hier, auf den Grund gesunken, unfähig aufzutauchen, denn ich habe Angst. Die
Angst ist ein schweres Gewicht, das sie festhält in der dunklen Tiefe, in der sie verborgen ist.
»Anja, hörst du mich? Mach bitte auf!«
Das ist Pauls Stimme. Paul ist gekommen! Er kann die Tür nicht aufschließen, weil innen ihr Schlüssel steckt. Wieder das Klopfen.
Seine Stimme. Durch die wattigen Schichten ihrer Betäubung hört sie die Dringlichkeit, die aufschießende Angst. Ohne die Augen
zu öffnen, murmelt sie:
»Ich komme.«
Mühsam setzt sie sich auf und kämpft gegen den Schwindel an. Auf dem Boden verstreut liegen die vielen Blätter, die sie heute
nacht beschrieben hat.
Ja, sie hat die ganze Nacht geschrieben bis zum Morgengrauen. Hat geschrieben und getrunken und dann in einem Anfall von Wut
und Verzweiflung alles vom Tisch gewischt und sich angezogen auf das Bett fallen lassen.
Nun ist es Tag. Vor der Tür steht Paul.
»Ich komme«, sagt sie etwas lauter und tappt um das Bett herum zur Tür, um aufzuschließen.
Gleich wird sie erfahren, wie über sie entschieden wurde.
Er war erstaunt, wie klein sie war, als sie die Tür öffnete und vor ihm stand, eine Frau in einem zerdrückten hellen Leinenrock
mit zerzausten Haaren. Die Augen in dem bleichen, verschwollenen Gesicht schienen ihn nur undeutlich wahrzunehmen. Später
dachte er, sie hatte jenen Ausdruckvon Verstörtheit, mit dem Überlebende eines Unglücks dem ersten Retter begegnen.
»Entschuldige, ich habe geschlafen«, sagte sie.
»Anscheinend sehr tief.«
Um den Ton von Kritik in seiner Stimme zu überdecken, küßte er sie flüchtig auf ihren schlafwarmen Mund, bevor er mit ihr
in das Zimmer trat. Der Vorhang war zugezogen, das Fenster wohl seit langem geschlossen. Es roch ungelüftet nach verbrauchter
Luft und dem Schlafdunst, der ihren Kleidern entstiegen war, als er sie küßte. Er schaute sich um. Unter dem kleinen Tisch,
neben der Fußleiste stand eine leere Rotweinflasche, eine zweite, zu zwei Dritteln geleerte, stand auf der Tischplatte neben
einem dickwandigen Wasserglas mit einem roten Bodensatz. Das waren die Spuren der einsamen Nacht, die sie in dem kleinen Raum
verbracht hatte. Aber der Eindruck, daß er die Zeugnisse einer Katastrophe sah, ging von der heruntergerissenen Bettdecke
und den vielen über den Boden verstreuten, mit ihrer Handschrift bedeckten Blättern aus. So hätte es aussehen können, wenn
er sie hier tot gefunden hätte.
In letzter Zeit hatte er sich das oft vorstellen müssen. Es war ein Bild, das sich immer wieder eingestellt hatte, wenn er
zu ihren verabredeten heimlichen Treffen kam. Er würde sie nackt im Bett vorfinden – den erkalteten Körper, das spitze graue
Totengesicht mit den geöffneten, aber erloschenen Augen. Wenn sich nichts änderte, würde sie es eines Tages tun. Mit ihrem
Tod würde sie das Schweigen durchbrechen, das er über sie verhängt hatte. Nun allerdings war es
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