Der Liebhaber meines Mannes
auf die Straße.
Ich war erstaunt, dass mich niemand aufhielt. Nicht ein Einziger blickte in meine Richtung, als ich vorbeimarschierte. Böen feuchter, salziger Luft kamen mir über die Steine entgegen. Lieder,die vom Pier herüberdröhnten, wurden in die eine oder andere Richtung geweht. Ich ging hinüber in die St. James Street. Obwohl der Himmel einen bräunlichen Farbton hatte, fühlte sich die Luft nach dem Museum angenehm frisch an. Ich ging schneller. Ich wusste, wohin ich ging, aber ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn ich da wäre. Trotzdem ging ich weiter, froh, dem Büro ohne Aufhebens entkommen zu sein. Erleichtert, dass mein Herz wieder regelmäßig schlug. De-DUM. De-DUM. De-DUM . Nichts Ungewöhnliches oder Gehetztes daran. Kein Blutandrang von der Brust zum Kopf, kein Pochen in den Ohren. Nur der ruhige, regelmäßige Schlag, während ich zielstrebig zum Polizeihäuschen ging.
Der Regen wurde stärker. Ich war ohne Mantel oder Schirm hinausgegeangen und meine Knie waren nass. Auch mein Kragen war feucht. Mit jedem Schritt war ich näher bei ihm. Ich musste mich nicht erklären oder Entschuldigungen liefern. Ich musste ihn nur sehen.
Das letzte Mal, dass es mir so ging, war mit Michael. Ich hatte so ein Verlangen, ihn zu sehen, dass alles möglich schien. Konventionen, die Meinung anderer Leute, das Gesetz, alles erschien lachhaft gegen den Wunsch, das Verlangen, zu dem Geliebten zu kommen. Ein herrlicher Zustand. Aber das Gefühl ist flüchtig. Bald merkst du, dass du im Regen gehst, durchnässt wirst, wenn du eigentlich an deinem Schreibtisch sitzen solltest. Frauen mit Kindern rempeln dich an, werfen misstrauische Blicke auf einen einzelnen Mann, der sich ohne Hut und Mantel mitten am Nachmittag in einer Einkaufsstraße herumtreibt. Alte Ehepaare, die zu Bushaltestellen hasten, gehen mit ihren Regenschirmen auf dich los. Und du denkst, selbst wenn er da ist, was sollte ich denn zu ihm sagen? Selbstverständlich sind genau in dem Moment, in dem seligen Moment, wenn alles möglich ist, keine Worte nötig. Man fällt sich einfach in die Arme, er versteht endlich alles –
alles.
Aber wenn das Gefühl nachlässt, wenn eine Frau gerade »Entschuldigung«gesagt hat und dir trotzdem auf den Fuß getreten ist, wenn du einen flüchtigen Blick auf dein Spiegelbild im Schaufenster von Sainsbury geworfen und einen wild dreinblickenden, durch den Regen laufenden Mann gesehen hast, der die erste Blüte der Jugend hinter sich hat, dann wird dir klar, dass Worte nötig sind.
Und was hätte ich ihm sagen sollen? Welche Entschuldigung sollte ich vorbringen, dass ich um diese Zeit durchnässt bis auf die Haut zu seinem Polizeihäuschen kam?
Ich konnte es einfach nicht mehr erwarten, dich zu sehen? Oder. Ich musste dringend einige Skizzen zur Vorbereitung machen?
Ich hätte den launenhaften Künstler spielen können. Aber wahrscheinlich ist es besser, die Karte für schwierigere Zeiten in Reserve zu behalten.
Also drehte ich um. Änderte dann wieder die Richtung und steuerte meine Wohnung an. Sobald ich dort war, rief ich Jackie an und sagte ihr, dass ich mich unwohl fühlte. Sagte, ich wäre schnell weggegangen, um eine Zeitung zu kaufen (das ist nachmittags, wenn es im Museum ruhig ist, nicht ganz ungewöhnlich), und mir wäre übel geworden. Ich würde mich hinlegen und wäre am nächsten Morgen früh wieder da. Sie sollte alle Anrufer auf morgen vertrösten. Sie klang nicht überrascht. Stellte keine Fragen. Gute, loyale Jackie. Worüber hatte ich mir zuvor nur Sorgen gemacht?
Ich zog die Vorhänge zu. Drehte die Heizung an. Es war nicht kalt in der Wohnung, aber ich hatte das Bedürfnis nach möglichst viel Wärme. Ich zog meine nassen Sachen aus. Ging in dem Pyjama ins Bett, den ich hasste. Flanell, blaue Streifen. Ich zog ihn an, weil es besser war, als nackt im Bett zu liegen. Nackt zu sein erinnert nur daran, dass man allein ist. Wenn man nackt ist, kann man sich nur an den Laken reiben. Flanell auf der Haut ist zumindest eine Schutzschicht.
Ich dachte, ich müsste vielleicht weinen, es war nicht so. Ich lag da mit Gliederschmerzen und vernebeltem Kopf. Ich dachte nichtan Michael. Ich dachte nicht daran, wie ich wie ein Narr ziellos die Straßen entlanghastete. Ich zitterte nur, dann hörte das Zittern auf und ich schlief ein. Ich schlief den Rest des Nachmittags und in den Abend hinein. Dann wachte ich auf und schrieb das hier.
Jetzt werde ich wieder schlafen.
4. OKTOBER 1957
ICH SCHREIBE
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