Der Liebhaber meines Mannes
hier treffen. Es müsste ein bisschen später sein. Sagen wir halb acht?«
Er sah auf die Karte. »Ist das dein Studio?«
»Ja. Und ich wohne dort.«
Er drehte die Karte um, bevor er sie in die Jacke steckte. Er lächelte, als er sagte: »In Ordnung«, aber ich wusste nicht, ob er lächelte, weil ihm der Gedanke, in meine Wohnung zu kommen, gefiel, aus Belustigung über meinen Trick, ihn dorthin zu locken, oder aus bloßer Verlegenheit. Aber. Er hat die Karte in der Tasche. Und Dienstag steht fest.
5. OKTOBER 1957
HEUTE MORGEN HATTE ICH einen schrecklichen Kater. Ich bin sehr spät aufgestanden und habe herumgesessen, Kaffee getrunken und noch mal Agatha Christie gelesen, in der Hoffnung, dass mich das aufmuntern würde. Bisher nicht.
Nach dem Schreiben habe ich mich gestern Abend entschlossen, ins Argyle zu gehen. Teils, weil mir die Vorstellung, wieder einen ganzen Abend darauf zu warten, dass es Dienstag würde, nicht angenehm war. Aber in Wahrheit war ich aufgekratzt wegen meines Erfolgs. Der Junge würde hierherkommen, in meine Wohnung. Er war einverstanden. Er kommt allein, Dienstagabend. Wir haben uns zusammen Ikarus angesehen und er hat mich heimlich angelächelt und er kommt.
Deshalb dachte ich, es würde vielleicht Spaß machen, ins Argyle zu gehen. Es tut nicht gut, an solche Orte zu gehen, wenn man deprimiert und einsam ist. Sie verschlimmern den Kummer nur, besonders wenn man am Ende allein bleibt. Aber wenn man optimistisch ist … na ja, dann ist das Argyle genau der richtige Ort. Es ist ein Ort der
Möglichkeiten.
Ich war sehr lange nicht dort gewesen; seitdem ich vor ein paar Jahren den Kuratorjob ergattert hatte, musste ich sehr diskret sein. Nicht, dass ich das jemals nicht gewesen wäre, wirklich nicht. Michael und ich gingen sehr selten aus. Mittwochnacht war die einzige, die wir zusammen verbrachten, und ich wollte sie nicht vergeuden, indem ich mit ihm ausging und ihn mit jemand anders teilte. Ich besuchte ihn oft tagsüber, aber er wollte immer, dass ichum acht Uhr aus seinem Zimmer verschwand, für den Fall, dass seine Vermieterin misstrauisch wurde.
Aber nur am Argyle vorbeizugehen ist riskant. Was wenn Jackie mich sah, wenn ich gerade zur Tür blickte? Oder Houghton? Oder eines von den Mädchen aus dem Museum? Selbstverständlich lernt man, vorsichtig zu sein, wenn man in Bars geht – nach Einbruch der Dunkelheit gehen, allein gehen, keine Aufmerksamkeit erregen, wenn man die Straße entlanggeht, nicht in ein Lokal gehen, das in der Nähe der eigenen Wohnung ist. Deshalb genieße ich die Abende in London mit Charlie. Dort ist es viel einfacher, anonym zu sein. Brighton ist trotz der internationalen Atmosphäre eine kleine Stadt.
Es war ein trüber Abend, feucht und mild, sehr wenige Sterne. Ich war froh, dass es regnete – es lieferte mir den Vorwand, mich unter meinem größten Regenschirm zu verstecken. Ich ging die Promenade entlang, am Palace Pier vorbei, und überquerte die King’s Road, um das Stadtzentrum zu umgehen. Ich ging schnell, hatte es aber nicht eilig. Ich bog in die Middle Street ein, hielt den Kopf gesenkt. Zum Glück war es schon fast halb zehn und die Straßen ziemlich ruhig. Alle waren damit beschäftigt, ihre Drinks auszutrinken.
Ich schlüpfte durch die schwarze Tür (die nur ein kleines goldenes Schild zierte: ARGYLE HOTEL ), trug mich unter dem Namen ein, den ich an solchen Orten immer verwendete, zog den Mantel aus, steckte meinen durchnässten Schirm in den Ständer und ging in die Bar.
Kerzenlicht. Kaminfeuer, das zu viel Wärme verbreitete. Ledersessel. Der junge Orientale am Klavier spielte »Stormy Weather«. Es heißt, er hätte in Raffles Hotel in Singapur gespielt. Der Geruch von Gin, Givenchy Eau de Cologne, Staub und Rosen. Es standen immer frische Rosen auf dem Tresen. Gestern Abend waren sie blassgelb, sehr erlesen.
Sofort hatte ich das altbekannte Gefühl, von mehr als einem Dutzend männlichen Augenpaaren begutachtet zu werden. Ein Gefühl, das gleichermaßen angenehm und schmerzlich war. Nicht, dass sie sich alle umdrehten und mich anstarrten – im Argyle lief es nicht so offen ab –, aber meine Anwesenheit wurde bemerkt. Ich hatte viel Sorgfalt auf mein Äußeres verwendet, den Schnurrbart gestutzt, etwas Öl in die Haare gegeben und mein am besten geschnittenes Jackett (das grau melierte aus der Jermyn Street) gewählt, bevor ich mich hinausgewagt hatte, also war ich vorbereitet. Ich halte mich fit – mache jeden Morgen
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